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Alfred K. Treml

 

Ethik als Unterrichtsfach

in den verschiedenen Bundesländern

Eine Zwischenbilanz

 

Zum Autor:   

Alfred K. Treml (geb. 1944) Univ.-Prof. Dr. rer. soc.; lehrt Allgemeine Pädagogik m.b.B. ihrer philosophischen und systematischen Grundlagen an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Viele Veröffentlichungen zu philosophischen und systematischen Grundfragen der Erziehungswissenschaft, Entwicklungspädagogik, Ethik.

 

 

Die Geburt eines neuen Schulfaches ist eine aufregende, weil seltene Angelegenheit. In Anbetracht des Alters und der Beharrlichkeit unseres schulischen Fächerkanons ist es erstaunlich, dass es in wenigen Jahren in beinahe allen Bundesländern gelungen ist, Ethikunterricht (wenngleich unter verschiedenen Bezeichnungen) als eigenes und neues Schulfach einzuführen. Wie ist das zu erklären?

 

Ich werde im Folgenden dieser Frage in einem ersten Teil historisch nachdenken und dabei vor allem auf die formalen Ausprägungen des Faches eingehen. In einem zweiten Teil will ich dann die verschiedenen inhaltlichen Konzeptionen systematisch skizzieren und einzelnen Bundesländern zuordnen. In beiden Teilen wird es – wie im Untertitel angedeutet – um einen kritischen Vergleich gehen. In einem abschließenden dritten Teil werde ich dann zusammenfassend sechs Thesen formulieren und zur Diskussion stellen.

 

Es ist nicht leicht, im Rahmen eines kurzen Aufsatzes einen Überblick über den Ethikunterricht (EU) in Deutschland zu geben.[1] Das Thema ist unübersichtlich und in einem ständigen Veränderungsprozess befindlich. Mehr als eine mit kritischen Anmerkungen versehene Zwischenbilanz auf mittlerer Abstraktionslage ist nicht möglich.[2]

 

 

  1. Die historische Entwicklung des Ethikunterrichts

 

Ein Blick in die noch recht junge Geschichte des Fachs wird nicht „von außen“ in die Schule implementiert, also nicht etwa durch ein (politisches) Rumoren oder Rauschen in der Gesellschaft, sondern entsteht als Folge der Kompensationsbemühungen eines Problems, das die Schule selbst plötzlich mit einem ihrer ältesten Fächer bekam, nämlich dem Religionsunterricht (RU).

 

Der RU ist historisch gesehen ein Hauptfach, Mittelpunkt einer Schule, die noch bis weit in die Neuzeit hinein unter kirchlicher Aufsicht stand. Erst nach langen bildungspolitischen Kämpfen setzte sich die säkulare, weltanschaulich neutrale Schule und damit der Staat als Souverän des öffentlichen Schulsystems durch. Kirche wurde, wie alle anderen weltanschaulichen Gruppierungen auch, Umwelt des Systems Gesellschaft. Die Ungleichheit der diversen gesellschaftlichen Subsysteme verlangt die Gleichheit staatlicher Behandlung. Es ist der spezifischen historischen und politischen Situation in der Nachkriegszeit zu verdanken, dass davon eine bemerkenswerte Ausnahme gemacht und juristisch verankert wurde: Der RU. In Art. 7, Abs. 3 GG heißt es: „Der RU ist in den öffentlichen Schulen (…) ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts wird der RU in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.

 

Der RU ist sowohl weltanschaulich gebunden als auch gleichzeitig ordentliches Lehrfach in einer weltanschaulich neutralen Schule – wenn man so will: ein Anachronismus. Er ist als einziges Schulfach sowohl „ordentliches Schulfach“, also staatlich garantierter (und finanzierter) Rechts- und Pflichtanspruch für alle, wie auch nach den religiösen Lehren der Religionsgemeinschaften bestimmtes Unterrichtsfach, also ein von den Kirchen in alleiniger Verantwortung getragener Weltanschauungsunterricht für ihre Mitglieder. Zugespitzt gesagt: Der RU ist gleichzeitig ein „ordentliches“ und ein „unordentliches“, ein „normales“ und ein „unnormales“ Lehrfach.

 

Die Folgen sind – wie könnte es anders sein – widersprüchlich. Als ordentliches Lehrfach besteht eine Teilnahmepflicht, als „unordentliches“ konfessionell gebundenes Schulfach einer religiösen Weltanschauungsgemeinschaft besteht keine Teilnahmepflicht. Schüler haben das Recht, sich nach Erreichen ihrer Religionsmündigkeit (in der Regel mit 14 Jahren) davon abzumelden. Eltern können ihre Kinder schon vorher davon befreien lassen.

 

Diese eigentümliche Konstruktion des RU war so lange unproblematisch, als die deutschen Schüler in der Regel gleichzeitig beiden hier beteiligten Systemen, der Schule und der Kirche, angehörten. Solange diese Koinzidenz der Mitgliedschaften für die überwiegende Mehrzahl aller Schüler bestand, blieb das Privileg der Kirchen in dieser Angelegenheit unproblematisch. Die besonderen Interessen einer Gruppe schienen mit dem allgemeinen Interesse des Staates zusammenzufallen. Die wenigen Ausnahmen waren vernachlässigbar.

 

Anfang der siebziger Jahre wurde jedoch diese glückliche Koinzidenz immer mehr brüchig. In der Folge der Studentenbewegung, der 68er-Bewegung, mündete der allgemeine Emanzipationsaufbruch für viele auch in einer radikalen Kirchenkritik.[3] Das führte zu Kirchenaustritten und zu einem sprunghaften Anstieg der Abmeldungen vom Religionsunterricht, insbesondere durch die Eltern, aber auch, nach Erreichung ihrer Religionsmündigkeit, durch die Schüler selbst.[4]

 

In dieser Situation waren es die beiden großen christlichen Kirchen, zunächst die Katholische Kirche (Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer vom 22.11.1974), und dann ein Jahr später die Evangelische Kirche (Beschluss des Ausschusses Bildung und Erziehung der Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau vom 22./23.8.1975), die – einer KMK-Empfehlung von 1972 folgend – für die „Religionsflüchter“ unter den Schülern den „Ersatzunterricht“ forderten. Fiel also die kirchenpolitische Geburt des sog. „Ersatzunterrichts“ Ethik in die Jahre 1974/75, wurde er schon in den darauf folgenden drei Jahren in mehreren Bundesländern staatspolitisch aus der Taufe gehoben, d.h. auf eine rechtspolitische Grundlage gestellt: Baden-Württemberg 1976 (Regeleinführung 1983), Hamburg 1977, Hessen, Niedersachsen und das Saarland 1978.[5] Unmittelbar danach wurden Lehrplankommissionen eingesetzt und einschlägige Lehrpläne in der ersten Hälfte der achtziger Jahre in Kraft gesetzt, so dass in den darauf folgenden Jahren schließlich der EU sukzessive realisiert werden konnte.

 

Das erste und wohl wichtigste Motiv für die Einführung des Ethikunterrichts ist also ein kompensatorisches: EU kompensiert eine unerwünschte Nebenfolge der verfassungsrechtlichen Konstruktion des bestehenden RU. Die Alternative für Schüler: „Religion oder schulfrei“ wurde in die Alternative: „Religion oder Ethik“ überführt. Der erwünschte Effekt stellte sich schnell ein. Nach Einführung des EU gingen die Abmeldungen vom RU wieder erheblich zurück.[6]

 

Neben diesem wohl ausschlaggebenden Motiv spielen aber auch noch einige weitere Motive eine wichtige Rolle. Der dringliche Wunsch der mächtigen Kirchenlobby alleine konnte den behäbigen Staat nicht so schnell auf Trab bringen. Es kam und kommt sicher auch ein dezidiertes Eigeninteresse des Staates hinzu. Es liegt im Interesse des Staates, die der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft innewohnende Tendenz zur Zerstreuung der heterogenen Kräfte durch Förderung gemeinsamer, homogener Werte zu kompensieren. Ohne gleichzeitige Inklusion würde Differenzierung gesellschaftlich fruchtlos bleiben. Diese Verbindung zweier gegenläufiger Bewegungen ist immer ein riskanter Balanceakt und eine Daueraufgabe verantwortlicher Politik.

 

In den letzten beiden Dekaden spitzte sich dieses Problem zu. Vor allem die zunehmend multi-kulturelle und „multi-weltanschauliche“ Zusammensetzung der Gesellschaft und damit auch der Schülerschaft an öffentlichen Schulen, aber auch der konstatierte Verlust gemeinwohlförderlicher Tugenden führte im Schulalltag immer häufiger zu organisatorischen, rechtlichen und pädagogischen Problemen, u.a. weil immer mehr Schüler nicht mehr automatisch am RU teilnahmen (ohne zu den Abmeldern zu gehören). Neben den Religionsabmeldern nahm vor allem die Zahl der nichtchristlichen und religiös nicht gebundenen Schüler zu. In dieser Situation brachten die staatlichen Schulträger ihr Interesse an einem Unterrichtsfach zum Ausdruck, das diese kulturelle und weltanschauliche Heterogenität durch die Behandlung allgemeiner sittlicher Regeln des Miteinanderumgehens kompensieren sollte. Es ist sicher kein Zufall, dass etwa zur gleichen Zeit, also etwa ab Mitte der achtziger Jahre, in der Bildungspolitik und in der Pädagogik die Diskussion um die neue Allgemeinbildung und über den Erziehungsauftrag der Schule begannen.

 

Hatte also die Kirche in erster Linie das Interesse, die Abmeldungen vom RU zu kompensieren, so verfolgte der Staat zunächst das Interesse, die Heterogenität einer multikulturellen Schülerschaft zu kompensieren. Ging es der Kirche um die Restablisierung einer privilegierten Differenzierung, ging es dem Staat um die Restabilisierung eines Inklusionsprinzips, das in den vielen Unterschieden das Allgemeine qua Gemeinwohl ermittelt. Diese durchaus unterschiedlichen kompensatorischen Interessen wurden mit der Einführung des EU zu befriedigen versucht. Dass dies nicht bruchlos gelingen konnte, ist aus heutiger Sicht nicht verwunderlich.

 

Kirche und Staat hatten also durchaus unterschiedliche Motive, den EU einzurichten. Die Unterschiede verstärken und differenzieren sich, wenn man zusätzlich noch berücksichtigt, dass beide beteiligten Parteien noch einmal unterschiedlich akzentuierte Interessen haben: Die Kirche als Katholische Kirche oder Evangelische Kirche und der Staat als CDU-regiertes Bundesland oder als SPD-regiertes Bundesland setzten durchaus unterschiedliche Akzente. In dieser Gemengelage ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten.

 

Zunächst einmal waren sich beide Kirchen offenbar der Gefahr einer unliebsamen und unerwünschten Konkurrenz des RU durch den EU bewusst.  Sie taten jedenfalls – unter Mithilfe der staatlichen Schulträger – zunächst alles, um gerade diese Konkurrenz schon im juristischen Vorfeld zu verhindern:

 

  1. EU wurde als „Ersatzfach“ – das sagte der Name schon – an den RU gekoppelt und instrumentalisiert. Eine Gleichberechtigung etwa in Form eines Wahlpflichtfaches, eines freien Wahlfaches oder gar eines normalen Pflichtfaches wurde zunächst verhindert (auf die Ausnahmen und auf die weitere Entwicklung gehe ich noch ein). Nur dort, wo RU angeboten wird, darf – wie etwa in Hessen oder Baden-Württemberg – auch EU angeboten werden. Paradoxer Effekt: melden sich bei 8 Schülern im RU und 20 im EU weitere 2 Schüler vom RU ab, um in den EU zu gehen, und realisiert die Kirche den RU wegen Personalmangel nun nicht mehr, muss auch der EU ausfallen, obwohl er mit 22 Schülern auf eine starke Nachfrage stößt und die organisatorischen Voraussetzungen vorliegen. Das Fach sollte offenbar eine Abschreckungsfunktion haben, weil es nur so lange realisiert werden darf, als es diese Funktion erfüllt.

EU verdankt seine Existenz dem RU – das ist die gute Nachricht. Er ist als „Ersatzfach“ aber ein Appendix, ein Anhängsel des RU, seine Dignität ist eine abgeleitete, sekundäre – das ist die schlechte Nachricht. Er besitzt Strafcharakter, weil er die „Strafe für die Religionsflüchtlinge“ ist, er ist ein „Lumpensammler“, weil er die „Lumpen“ sammelt, die es wagen, den RU zu verlassen oder gar die Religion selbst schon verlassen haben. EU ist in dieser Form eine Art säkularisierter staatlicher Religionsersatz, eben „Ersatzfach“.[7]

 

  1. Neben dieser formellen, juristisch fixierten Abhängigkeit des EU als Ersatzfach ist auch eine erhebliche inhaltliche Einflussnahme der Kirchen auf die Gestaltung des EU unübersehbar. Schon bei den Lehrplankommissionen spielten (und spielen) Kirchenvertreter eine wichtige Rolle; noch im Oktober 1990 waren 4 von 9 Mitgliedern der Kommission „ethische Bildung“ beim damaligen DDR-Ministerium für Bildung und Wissenschaft Kirchenvertreter – also 44,4 % in einem Land, in dem gerade 10 % der Bevölkerung Kirchenmitglieder sind.[8] Auch dort, wo diese unmittelbare Überpräsenz der Kirchen in den Ethik-Lehrplankommissionen zahlenmäßig nicht so groß ist, signalisiert das faktische Ergebnis eine deutliche Dominanz christlicher Weltanschauung. Nicht nur, dass die Lehrpläne von allen kirchenkritischen und atheistischen Bemengungen gereinigt sind – auch über die explizite juristische Verankerung in den Landesverfassungen wird garantiert, dass es in seinen inhaltlichen Rahmenbedingungen mittelbar ein an christlichen Glaubensvorstellungen auszurichtendes Schulfach ist.
  2. Zusätzlich zu diesen formalen und inhaltlichen Ankoppelungen an den RU wurden eine Reihe von strukturellen Einschränkungen für den EU bestimmend, die dafür sorgen, dass das Fach möglichst unattraktiv bleibt oder ggf. gar nicht realisiert werden muss:

-         So wird zunächst einmal das Abmelderecht vom RU und

-         Die Eingangsvoraussetzungen für den EU erschwert. Abmeldungen sind nur „aus Gewissengründen“  möglich. Der EU wird damit für diese Schüler zu einem „zivilen Ersatzdienst für Gordose“ [9] - und im Umkehrschluss paradoxerweise der RU zum „Wehrdienst für Gottgläubige“ stilisiert. Merkwürdig ist dies deshalb, weil wir wohl in Deutschland eine allgemeine Wehrpflicht, aber keine allgemeine Religionspflicht kennen. Dazu kommt, dass für den EU (und damit für die Abmeldung vom RU) nicht geworben werden darf; das ist ausdrücklich verboten. Eine Abmeldung ist schließlich in (den katholischen Ländern) Bayern, Rheinland-Pfalz und Saarland (aufgrund einer Judifizierung der Länderverfassungen vor dem Grundgesetz) erst ab 18 Jahren möglich, obwohl das Gesetz über die religiöse Kindererziehung schon aus dem Jahre 1921 ist und besagt, dass Kindern ab 14 Jahren die eigene religiöse Entscheidung zusteht.

-         Die Einrichtung des EU setzt eine Mindestzahl von Schülern voraus, die entweder sich vom RU abgemeldet haben oder gezwungen sind, daran teilzunehmen und – das sind gegenwärtig die Ausnahmen – nicht mohammedanisch (nur in NRW), jüdisch oder neuapostolisch sind (in der Regel 8 oder 12 Schüler). Eine weitere Voraussetzung ist, dass genügend qualifizierte Lehrer für den Unterricht zur Verfügung stehen, was immer das heißen mag angesichts der Tatsache, dass eine grundständige Ethiklehrerausbildung immer noch ein Desiderat ist. Schließlich kommt als dritte Einschränkung de facto dazu, dass dies der Schulleiter so will, den nur er bestimmt letzten Endes darüber.

-         Sind all diese Hürden genommen, steht der Schüler vor dem Lehrer, der dafür nicht bzw. zumindest nicht ausreichend ausgebildet ist. Es gibt bis heute (Mai 1994) m.W. keinen einzigen real existierenden Ethiklehrer, der auf eine (grundständige) Lehrerausbildung zurückblicken könnte, die vergleichbar wäre etwa mit einer Ausbildung zum Religionslehrer oder zum Chemielehrer. Für die immer als so wichtig und schwierig und schwierig apostrophierte Aufgabe des Ethiklehrers wird bis heute kein vergleichbarer Nachweis einer professionellen Qualifikation erwartet. Ethiklehrer sind professionelle Dilettanten und werden – einmal abgesehen von der philosophischen Variante, auf die ich noch eingehen werde – grundsätzlich fachfremd eingesetzt.

 

Zusammenfassend muss man feststellen, dass überall dort, wo er als Ersatzfach angeboten wird, der EU ein juristisch, organisatorisch und konzeptionell diskriminiertes und marginalisiertes Fach ist. Die Folgen lassen sich an den Zahlen ablesen: Wenn wir die mir vorliegenden Statistiken aus Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen verallgemeinern können, nahmen 1990 ca. 85 % der Schüler am Religionsunterricht und nur ca. 15 % am EU teil. In Bd.-Wrtbg. Sind es inzwischen immerhin mehr als 25 %. Diese Diskriminierung des EU ist die Kehrseite der Privilegierung des RU.

 

Warum? Einmal abgesehen von der starken verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Privilegs, unterstellen viele Bildungspolitiker offenbar, dass der RU dem staatlichen Schulsystem eine allgemeine Dienstleistung offeriert, die der Staat ansonsten selbst erfüllen müsste:

Der Gesetzgeber hat dem Ethik-Unterricht die Rolle eines Ersatzfaches zugewiesen, nicht weil er dessen Aufgabe für unwichtig hält, sondern weil er davon ausging, dass der RU von seinen Voraussetzungen her diese ethischen Fragen aufgreift und so auf seine Weise auch einen bedeutsamen Beitrag zur ethischen Erziehung leistet. Ersatz brauche ich nur dann, wenn etwas fehlt, das vorhanden sein muss, bzw. wenn eine Lücke entstanden ist, die es wieder zu schließen gilt.“[10]

 

Nun ist der „bedeutsame Beitrag“ des Religionsunterrichts „zur ethischen Erziehung“ meines Wissens nie wissenschaftlich untersucht worden. Es handelt sich hier offenbar nicht um eine aposteriorische, also auf Erfahrung beruhende, sondern um eine apriorische Aussage, also um eine theoretische Prämisse, die allerdings schon sehr alt und ehrwürdig ist. In der schulpädagogischen Diskussion wurde immer wieder auf den bedeutsamen Beitrag der Religion und der religiösen Erziehung für die Legimitation und Stabilisierung der jeweiligen Gesellschaftsstrukturen hingewiesen. Ich denke, dass diese Prämisse inzwischen fragwürdig geworden ist. Religion hat nicht nur stabilisierende, sondern auch labilisierende Effekte; sie kann zur Konservierung vorgegebener Strukturen ebenso beitragen wie zu deren In-Frage-Stellung. [11] Es hieße, den bedeutsamen Beitrag der Religion zum sozialen Wandel zu unterschlagen, würde man ausschließlich ihre gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion hervorheben. Der „bedeutsame Beitrag“ des Religionsunterrichts zur ethischen Erziehung kann keinesfalls im Kurzschließen von religiöser Erziehung und Produktion eines konservierenden Grundkonsens gesehen werden, sondern in  der Einübung eines gemeinsamen Glaubens an sittliche Programme (der jeweiligen Religion), die Konsens oder Dissens, Wiederholung oder Widerstand hervorrufen können. In der Moderne kann ethischer Unterricht nicht mehr über Einheit, sondern nur noch über Differenz kultiviert werden. Selbst dort, wo – wie häufig im RU – die Einheit eines Glaubens betont wird, produziert man, wie ein Blick in die Kirchengeschichte veranschaulicht – die Differenz von Abweichungen. Ethischer Unterricht kann nur noch in der Einheit dieser Differenz gedacht werden.

 

Ein Blick über die Grenzen beweist, dass deshalb die ethische Erziehung in der Schule nicht mehr an eine Privilegierung des RU gekoppelt wird. In vielen Ländern ist der EU in der Schule nicht als „Ersatzfach“, sondern in der Regel als Wahlpflichtfach verankert. [12]

 

Mit der deutschen Wiedervereinigung stellte sich für die neuen Bundesländer die Frage, nach welchem Modell sie den ethischen Unterricht in ihren Landes- und Schulgesetzen verankern wollten. Werden auch sie den nicht unproblematischen Ersatzfachstatus einführen oder orientieren sie sich eher an ausländischen Vorbildern und verankern das Fach als Wahlpflichtfach, als Pflichtfach oder als freies Wahlfach? Diese Alternative ist hier vor allem deshalb nahe liegend, weil die Bevölkerung der DDR in überwiegendem Maße nicht mehr einer Kirche oder Konfession angehört. Auch ist für viele Menschen eine Zwangseinführung eines weltanschaulich gebundenen Faches (trotz Abmeldemöglichkeit) gerade nach den Erfahrungen der letzten 40 Jahre mit einer staatstragenden Metaphysik, dem Marxismus-Leninismus, nicht gerade attraktiv. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass bei einer Umfrage gerade mal 3 % der Eltern für die Einführung eines RU unter kirchlicher Trägerschaft plädierten. [13]

 

Der von Erich Weniger schon 1930 apostrophierte „Kampf geistiger Mächte“ um den Lehrplan [14] ist in den neuen Bundesländern zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages noch nicht endgültig entschieden. Es deutet sich aber an, dass die ursprüngliche Befürchtung, wonach auch auf diesem Gebiet die westdeutsche Ersatzfachkonstruktion importiert wird, nicht begründet ist. Die meisten der ostdeutschen Länder werden die Wahlpflichtfachkonstruktion realisieren.

 

Wir wollen das Ergebnis im Zusammenhang aller Bundesländer qua Synopse betrachten (siehe Tabelle). Beachten Sie dabei die beiden Ausnahmen: In Bremen gibt es keinen RU in kirchlicher Verantwortung, sondern einen überkonfessionellen RU („Biblische Geschichte/Religionskunde“), und in Berlin ist Religion kein ordentliches Lehrfach.


 

 

 

Synopse „Ethischer Unterricht in Deutschland“

Bundesland

Name des Faches

Seit wann Lehrpläne

Für welche Schularten

Für welche Schulstufen

Status

Lehrer-ausbildung

Lehrer-fortbildung

Baden-Württemberg

Ethik

1984/85/86 neue LP 94795

HS, RS, BS, GY

Sek I ab 8, Sek II

Ersatzfach

Nein

Ja

Bayern

Ethik

1981/82 neu ab 1994

GS, HS, RS, BS, GY

PS, Sek I/II ab 5

Ersatzfach

Nein

Ja

Berlin

Ethik/Philosophie (Schulversuchsfach) ab 94/95

Arbeitspapier 1993

GS, HS, RS, GY

Sek I, 7-10 Sek II

Wahlpflichtfach

Nein

Ja

Brandenburg

Lebensgestaltung – Ethik – Religion

Modellversuch ab 1992-95

GS, HS, RS, GY

Sek I, 7-10 (PS, Sek II)

Wahlpflichtfach

Nein

Ja

Bremen

Sek I: “Philosophie/Ethik”

Sek II:

„Philosophie“

1993

HS, RS, GY, IGS

GS, Sek I

Sek II

Ersatzfach für “Biblische Geschichte”, Wahlpflichtfach

Nein

Ja

Hamburg

Ethik

Philosophie (Sek II)

1985/86

HS, RS, IGS, GY

Sek I, 9-10

Sek II

Wahlpflichtfach

Nein

Ja

Hessen

Ethik

1982/1985

HS, RS, IGS, BS, GY

Sek I/II

Ersatzfach

Nein

Ja

Mecklenburg-Vorpommern

Philosophie

1991

GY

Sek II,

11-12

Wahlpflichtfach

Ja

In Planung

Niedersachsen

Werte und Normen

(Philosophie)

1980

neue LP 1995

HS, RS, IGS, GY

Sek I/II

Ersatzfach

Nein

Ja

Nordrhein-Westfalen

Philosopie

(Ethik i. Pl.)

1984

GY, GY, BS

Sek  II

Wahlpflichtfach

(als Pflichtfach geplant)

Ja

?

Rheinland-Pfalz

Ethik

1983/85/86

HS, RS, GY, SS, GY

Sonderschulen

GS, Sek I/II

Sek I, 4-10

Sek II

Ersatzfach

Nein

Ja

Saarland

Allgemeine Ethik

1980 / 1993

HS, RS, GY

Sek I, 9-10

Sek II

Ersatzfach

Nein

Ja

Sachsen

Ethik

1991/93

MS, SS; GY

Sek I, 5-10

Sek II

Wahlpflichtfach

Angel.

Ja

Sachsen-Anhalt

Ethik

1993

GS, HS, RS, SS, GY, BS

PS

Sek I

Sek II

Wahlpflichtfach

Angel.

Ja

Schleswig-Holstein

Philosophie

(Phil. Propädeutik)

1984

HS, RS, GY, BS

Sek I, 9-10

Sek II

Ersatzf. Für Kath. Rel. u. Nichtkonf./

Wahlpflichtfach für Evang. Rel.

Nein

Ja

Thüringen

Ethik

1991 vorl.

1993/94

GS, MS, RS, GY

PS, Sek I/II

Wahlpflichtfach

Angel.

Ja

 


 

  1. Didaktische Grundpositionen des Ethikunterrichts

 

Im zweiten Hauptteil will ich nun auf die unterschiedlichen pädagogischen Konzeptionen des EU in den verschiedenen Bundesländern eingehen. Ich beginne mit der Stilisierung der allgemeinen theoretischen Positionen, ohne die ein kritischer Vergleich der je besonderen  Ausprägungsformen des ethischen Unterrichts in den verschiedenen Bundesländern gar nicht oder nur willkürlich möglich wäre. Ich will versuchen, die vier wichtigsten didaktischen Positionen idealtypisch zu skizzieren, und gehe dabei kontrastierend vor, d.h. ich werde vor allem die Unterschiede hervorheben und die Gemeinsamkeiten vernachlässigen. Alle vier im Folgenden dargestellten Positionen kommen explizit vor und lassen sich eindeutig einzelnen Bundesländern zuordnen. Nicht berücksichtigt habe ich allerdings contrafaktische Positionen, also Positionen, die sich als Kritik bestehender Konzepte verstehen und sich bisher nirgendwo realisieren konnten. [15]

 

Ich unterscheide den EU als:

(1)   Praktische Philosophie

(2)   Lebenshilfe – Entwicklungsbegleitung

(3)   Moralerziehung

(4)   Ethische Reflexion

 

Diese Begriffe bezeichnen hier didaktische Grundpositionen und sind keine Namen des Faches (siehe Tabelle). In der jeweiligen länderspezifischen Zuordnung wird klar werden, welche Position in welchem Bundesland unter welcher Fächerbezeichnung dominant wird.

 

 

Zu 1: Praktische Philosophie

 

„Praktische Philosophie“ ist seit alters her die Bezeichnung für eine handlungsleitende Vernunft, die auf allgemeinverbindlichen Maximen beruht, und damit ein anderer Begriff für die philosophische Ethik. [16] Als traditionelles Teilgebiet der Philosophie erscheint die Praktische Philosophie in der Regel dem Schüler oder Studenten in Form von philosophischen Texten von philosophischen Klassikern. So belegt der Philosophiestudent beispielsweise Seminare mit dem Titel „Platons frühe Dialoge“, „Aristoteles: Nikomachische Ethik“, „Kants Metaphysik der Sitten“. Praktische Philosophie bedeutet hier also zunächst immer: Lesen moralphilosophischer Texte und hermeneutische Exegese dieser Texte. Was damit geleistet wird, ist die Einführung in ein Stück Weltliteratur. Die Prärogative des Textes spiegelt das hermeneutische Verständnis einer Vernunft wider, die in Form einer verschriftlichten Tradition über uns kommt und von jeder neuen Generation neu angeeignet werden muß.

 

Didaktisch profiliert ein solcher ethischer Unterricht in erster Linie die philosophierende, und das heißt vor allem: kognitive Auseinandersetzung mit den Positionen der Praktischen Philosophie wie sie insbesondere von den philosophischen Klassikern überliefert sind. Praktisch dürfte ein solcher Unterricht primär bildungstheoretisch akzentuiert sein, und das heißt: vom Bildungsgehalt der klassischen Inhalte der im Fach Philosophie tradierten Ethik ausgehen, diese philologisch bzw. hermeneutisch auslegen und diskursiv behandeln. Das schließt nicht aus, dass der methodische Zugang auch die Befindlichkeit und die Interessen der Schüler berücksichtigt. Aber im Mittelpunkt wird in der Regel ein philosophischer Text stehen, Schülerinteressen bilden den Horizont, vor allem in der Einstiegsphase, in dem dieser Inhalt didaktisch entfaltet wird – nicht aber das Thema selbst.

 

Theoretisch gibt es natürlich auch hier den hohen Anspruch, nicht Philosophie zu lehren, sondern (wie es Kant einmal formulierte), philosophieren zu lernen. Das heißt im Idealfalle, dass der Unterricht selbst schon ein Philosophieren ist und deshalb auch eine ethische Dimension besitzt und nicht nur der darin verhandelte Inhalt. Philosophie bzw. Ethik wäre also in diesem Sinne dem Unterricht nicht äußerlich, sondern ein konstitutives Element selbst. Die sokratische Methode wird hier immer wieder als ein natürliches Ideal dieses Philosophieverständnisses stilisiert, obwohl sie schon bei Sokrates ein recht artifizielles Produkt ist.

 

Ein EU in diesem Sinne als Praktische Philosophie wird unter verschiedenen Bezeichnungen vor allem in der Sek. II verwirklicht. Er findet sich konzeptionell als Teilbereich des Philosophieunterrichts in Schleswig-Holstein und rudimentär in Bremen, aber auch im Saarland unter der Bezeichnung „Allgemeine Ethik“. Seit kurzem hat auch Mecklenburg-Vorpommern einen solchen Philosophieunterricht als Wahlpflichtfach eingeführt.

 

Ein Vorteil ist sicher, dass diese didaktische Position als einzige eine klassische universitäre Bezugsdisziplin kennt – die Philosophie – und auf eine professionalisierte Lehrerschaft zurückgreifen kann. Die Fakultas in Philosophie ist in der Regel Voraussetzung für die Lehrbefähigung. Einen Nachteil sehe ich aber darin, dass wir heute nicht mehr auf einen Konsens über den Kanon einer materialen Bildungstheorie zurückgreifen können, der die Auswahl der Texte nichtbeliebig machen würde. Aber selbst, wenn uns die Bezugsdisziplin Philosophie den Kanon liefern könnte, besäße ein solcher bildungstheoretischer Objektivismus keine pädagogischen Auswahlkriterien. [17] Deshalb kann diese Position auch das Problem der sekundären Motivation nicht oder nur schwer lösen. Der Rekurs auf klassische philosophische Texte allein ist noch kein hinreichender Motivationsgrund für Schüler.

 

 

Zu 2. Lebenshilfe

 

Eine deutlich davon abgesetzte Konzeption liegt dort vor, wo nicht der Stoff – hier das philosophische Bildungsgut – sondern der Schüler in seiner aktuellen Befindlichkeit und Fraglichkeit im Mittelpunkt der EU steht. Der EU soll in erster Linie eine praktische Lebenshilfe bzw. Teil einer allgemeinen Lebensbewältigungspraxis sein. Thema dieses EU ist also der Schüler mit seinen existenziellen und situativen Lebensproblemen und nicht, wie in der „Praktischen Philosophie“, der Text eines Philosophen zu einem bestimmten moralphilosophischen Problem.

 

Primäre Bezugsdisziplin dieses Unterrichts ist (explizit) nicht die Philosophie, sondern (implizit) die Pädagogik (verstanden als Kunst, nicht als Wissenschaft!) und die Philosophie (verstanden als Therapie, nicht als Wissenschaft!); der Unterricht vollzieht sich primär praktisch in der Einübung von Fähigkeiten der Identitätsgewinnung: die Selbstfindung des Individuums und sein Sozialverhalten stehen im Mittelpunkt.

 

Ein solcher EU ist lebensweltorientiert, weil es um die Bewältigung von Problemen der alltäglichen Lebenswelt geht. Er ist gleichzeitig schülerorientiert, weil er von den Fragen der Schüler und nicht von Antworten der philosophischen Tradition ausgeht. Methodisch impliziert dies ein induktives Vorgehen, das die konkreten und aktuellen Erfahrungen und Probleme der Schüler in den Mittelpunkt stellt. Das Ethikverständnis ist also nicht das einer „reinen Ethik“, sondern das einer „angewandten Ethik“. Diese klärt bestenfalls die in konkrete Bewertungssituationen eingehenden theoretischen Implikationen, aber auch das nur in praktischen, angewandten Interesse. Eine solche schülerorientierte Didaktik sieht den Lehrer nicht mehr als Wissensvermittler, sondern als Begleiter, Hilfesteller und Gesprächspartner bei der praktischen Lebensorientierung.

 

Elemente einer solchen Position finden sich u.a. in Baden-Württemberg, wenn es beispielsweise im Lehrplan für den Ethikunterricht der Berufsfachschulen heißt: „Der Ethikunterricht will eine einfache Lebenskunde oder Lebenshilfe auf ethischer Grundlage geben.“ Aber auch in der Sek. I der allgemein bildenden Schulen finden sich deutliche Spuren dieses Konzeptes, etwa wenn Wolfgang Schwoerbel davon spricht, dass sich das Unterrichtsfach „Ethik als Ersatzfach für Religionslehre“ in der Sek. I in Baden-Württemberg „ursprünglich und zunächst als Lebenskunde oder Lebenshilfe versteht mit dem Richtziel den jungen Schülern moralische Orientierung zu verantwortlichem Handeln in unserer pluralistischen Gesellschaft und in ihrer eigenen Lebenswelt zu geben (…). Dazu aber braucht der Lehrer (…) keine hohe Wissenschaft, wohl aber Engagement und Können in seinem Beruf. [18] Aus diesem Zitat spricht deutlich der für diese Position charakteristische antizientistische Vorbehalt und die Anlehnung an ein Verständnis von Lebenskunst.

 

Auch in Brandenburg scheint mir der Modellversuch „Lebensgestaltung/Ethik/Religion“ (LER) – das sagt schon der Name „Lebensgestaltung“ – zumindest zu einem großen Teil diese Konzeption der Lebenshilfe zu intendieren. Auch in Thüringen wird ausdrücklich dort auf diese Position reklamiert, wenn dem Ethiklehrer die Rolle des Wissensvermittlers abgesprochen und stattdessen von einem „Begleiter, der die Selbstfindung des jungen Menschen durch Hilfen fördert,“ gesprochen wird. [19] Paradigmatisch wird diese zweite Position aber vor allem in den „Empfehlungen zur Einführung eines Unterrichtsfaches Lebensgestaltung/Ethik in den Schulen ostdeutscher Länder“ unter dem konzeptionellen Begriff der „Lebensgestaltung“ entfaltet. Hier heißt es: „Der Ansatz dieses Zugangs liegt bei der Lebenswirklichkeit der Heranwachsenden selbst. Die Gestaltung ihres momentanen und zukünftigen Lebens in der Fülle seiner Bezüge zu anderen, zur Gesellschaft und zu drängenden Fragen der gesamten Welt bietet den Rahmen dieses Fachs. Zugespitzt gesagt: Nicht ein Stoff oder ein bestimmtes Fachgebiet, sondern der Jugendliche selbst ist das Thema. Im Vordergrund steht nicht Wissensvermittlung, sondern jeder bringt sich und seine persönlichen Erfahrungen in das Gespräch mit ein. Ziel des Unterrichts ist die Befähigung zur sinnvollen und selbstbestimmten Gestaltung des eigenen Lebens oder die Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf der Basis der Selbsterkenntnis.“ [20]

 

Ein Vorteil dieses Ansatzes scheint vor allem darin zu liegen, dass das (pädagogische) Problem der sekundären Motivation erst gar nicht entsteht, weil ein hohes Eigeninteresse der Schüler vorausgesetzt werden kann. Weil der Unterricht Probleme der Schüler verhandelt, kann er für Lehrer und Schüler eine hohe Befriedigung implizieren. Allerdings setzt dies doch eine gewisse Homogenität der Problemhorizonte der verschiedenen Schüler voraus. Ist diese tatsächlich gegeben?

 

Die Nachteile dieser schülerorientierten Position liegen einmal in der Gefahr der völligen inhaltlichen (stofflichen) Beliebigkeit. Sie kann so weit gehen, dass der EU zu einem „Laberfach“ über völlig beliebige Themen derjenigen Schüler wird, die eh schon viel reden. Der aus dem schülerorientierten Unterricht bekannte Stoßseufzer der Schüler wird wieder zu hören sein: Müssen wir heute schon wieder das machen, was wir wollen!?

 

Zum anderen sehe ich ein Problem in dem Fehlen professioneller Qualifikationen auf Seiten des Lehrers. Der Lehrer als Fachmann für Unterricht soll offenkundig (auch) Therapeut spielen, ohne dafür ausgebildet zu sein. Die Überforderung ist mit Händen zu greifen, soll ein Lehrer bzw. eine Lehrerin doch „zugleich Therapeut und Kumpel, Vater und Bruder oder Mutter und Schwester, Beichtvater und Aufklärer, Spielkamerad und Tröster, die Traumgestalt eines >Lebensgestaltungslehrers< [21] sein. In Anbetracht dieser Überforderung für Schüler und Lehrer läuft der EU Gefahr, zu einer kommunikativen Spielwiese eines unverbindlichen Meinungsaustausches zu werden – fern von kognitiver und logischer Kompetenzvermittlung.

 

Schließlich stellt sich auch noch die Frage, was und wie in einem solchen Unterricht benotet werden soll bzw. kann. Es ist einerseits konsequent, wenn in Brandenburg bier auf jegliche Benotung verzichtet wird, gleichzeitig aber andererseits wieder inkonsequent, weil damit der Status des „ordentlichen Pflichtfaches“ unterlaufen wird und Schule ein eigenes Fach für Erziehung ausdifferenziert.

 

 

Zu 3. Moralerziehung

 

Diese Konzeption vertritt die klassische Position der moralischen Unterweisung, der Sittlichkeitserziehung. Sie will sittlich erziehen und als wertorientierter Unterricht explizit Werterziehung sein. [22] Ziel ist also die Vermittlung von Moral bzw. von Werten und Tugenden. Im sachlichen Mittelpunkt dieses EU stehen nicht Fragen, sonder (normative) Antworten – vor allem aber: das praktische Einüben in die gelebte Sittlichkeit der Tradition. Diese Position nimmt den „Mut“ zur moralischen Erziehung in Anspruch und ist als solche, auch wenn das nicht immer klar zum Ausdruck gebracht wird, im Kern ein weltanschaulich gebundener Gesinnungsunterricht. Dieser damit angesprochene Kernbereich wird häufig mit „Grundwerten“ umschrieben, gelegentlich mit FDGO (Freiheitlich Demokratische Grundordnung) oder schlicht durch Verweis auf das Grundgesetz, die UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948 und 1950 oder die Bayerische Landesverfassung beschworen. Wolfgang Brezinka, der diese Position vertritt, hat sie so beschrieben: „Es soll zu Glaubensüberzeugungen, Gesinnungseinstellungen, Grundhaltungen und persönlichen Wertrangordnungen erzogen werden, die den normativen Orientierungsgütern der eigenen Gesellschaft entsprechen.“ [23]  „Kern der Sache“ sei: „Mut zu Wertbindungen und zu einer wertgebundenen Erziehung“ [24], „Wille(n) zu Idealen“ und „Mut zu Sanktionen“. [25]

 

Ein solcher Moralunterricht impliziert zumindest im Bereich der Grundwerte eine normative Didaktik. Sie geht von obersten, vorpädagogischen Normen aus und stellt einen Deduktionszusammenhang bis hinein in den Unterricht her. Sie legt als Moralunterricht einen vorgegebenen Werte- oder Normenbestand zugrunde, dessen uneingeschränkte Verbindlichkeit das nicht diskutierbare Axiom ist, und gestaltet den Unterricht daraufhin aus. Bezugsdisziplin dürfte – auch wenn dies nicht explizit gesagt wird – was die immanente Ableitungslogik betrifft, die Theologie sein, und zwar vor allem die katholische Theologie. EU in diesem Sinne ist dann praktische Hermeneutik der vorgegebenen christlichen Grundwerte zum Zwecke der Produktion praktischer Sittlichkeit, die sich im Überzeugtsein im Handeln bzw. im „Tun“ zeigt. Deshalb ist der Lehrer immer auch: Vorbild.

 

Paradigmatisch ist diese Position des EU in Bayern konzeptionell entwickelt worden. 1981, also in der Phase der konzeptionellen Weichenstellungen und der Erprobung in ausgewählten Gymnasien, stellte Bernd Lohse das Grundkonzept vor. [26] Charakteristisch ist vor allem die erste Grundentscheidung: „Ethik-Unterricht will kein Unterricht im Fach Philosophie sein; er kann nur Werterziehung auf der Grundlage der Bayerischen Verfassung und des Grundgesetzes sein, d.h. auf der Grundlage der Menschenrechte (…). Die Folgen dieser Grundentscheidung ist im Vergleich zu einem reinen Philosophie-Unterricht – in einer Hinsicht – größere Verbindlichkeit: die den Menschenrechten zugrunde liegenden Werte sind nicht relativierbar, stehen nicht zur Diskussion, sondern bilden die feste Basis, auf der sich erst Meinungs- und Weltanschauungspluralismus legitim entfalten kann“. Und ein paar Sätze weiter heißt es lapidar: „der Ethik-Unterricht ist a priori grundwerteorientiert, nicht neutral“ [27].

 

Im Schlusssatz des Beitrages wird diese zentrale These einer absoluten, a priori Verankerung des EU noch einmal paraphrasiert und auf den implizierten Deduktionszusammenhang der der normativen Didaktik hingewiesen: Es gilt, „klarzumachen, dass trotz allen Augenscheins in jüngster Geschichte und Gegenwart im Bereich der Grundwerte keine Relativierung tolerierbar ist und dass die Grundwerte – stärker ins Bewusstsein oder Verhalten des einzelnen gehoben – klärender Maßstab für die untergeordneten Normen sind bzw. diese Normen, Regeln, Bestimmungen zum teil überflüssig machen“ [28].

 

Einer solchen Position der absoluten Verankerung von Grundwerten muss jeder ethische Relativismus und jede funktionalistische Religionssoziologie, die die Religion von außen beobachtet, ein Gräuel sein; es gilt „Einsicht in die Problematik des ethischen Relativismus“ zu vermitteln (so im Lehrplan für Gymnasien in Bayern). Religion dagegen wird unter besondere Fürsorge gestellt; für sie gilt es zu werben und Verständnis zu wecken, die Warnung vor ihr ist ausdrücklich verboten: „Zurecht wird zur Auflage gemacht, die Religionen von ihrem Selbstverständnis her, in ihrem „Mysterium“ zu erschließen, statt sie psychologisch, sozial oder auf andere Weise funktional wegzuerklären“[29].

 

Die Vorzüge dieser Position scheinen ihre klaren Prämissen und ihre eindeutigen Zielvorstellungen zu sein. Ihr deduktiver Gesamtzusammenhang suggeriert eine fast geschlossene Konzeption des EU fern jeder (ungelösten) Begründungsproblematik. Beliebigkeit wird vermieden, alles hat seinen notwendigen Stellenwert. Das dem vermehrten Bedarf nach Ethik zugrunde liegende moderne Kontingenzproblem scheint durch Rekurs auf eine absolute Position gelöst, die Moral wieder als Kontingenzstopp gebraucht [30]. Die Nachteile der Position hat Herwig Blankertz schon 1969 unter der Überschrift „Überholt, aber nicht verschwunden: normative Didaktik“ abgewandelt. [31] Die Kritik läuft im Kern darauf hinaus, dass es im Bereich der grundlegenden Werte und Normen keinen logischen Deduktionszusammenhang bis hinein in den Unterricht geben kann und deshalb auch der normative Geltungsanspruch nicht allgemeingültig begründet werden kann.

 

Aber selbst wenn dies theoretisch möglich wäre, ist die praktische Durchführbarkeit mehr als fraglich. Dort, wo die selbstverständlich gelebte implizite Sittlichkeit fragwürdig geworden ist, kann sie durch eine explizite moralische Erziehung gerade nicht mehr so ohne weiteres erzeugt werden, denn die Sozialisation gelebter Sittlichkeit wirk durch die Latenz ihrer Kontingenz, was jeder manifesten, internationalen Erziehung gerade abgeht. Sie will das Nichtmehrselbstverständliche (Kontingente) wieder selbstverständlich (notwendig) machen. Wie aber kann man Latenz durch das Bewusstsein hindurch direkt erzeugen? Dieses Dilemma jeder moralischen Erziehung war schon Sokrates, Platon und Aristoteles bekannt. Der elaborierte Stand dieser einschlägigen Diskussion, wie er insbesondere in den Platonischen Dialogen entfaltet ist, wird heute selten wieder erreicht.[32]

 

Im übrigen ist auch die Frage der Benotung bei dieser Position ungelöst. Wenn es gerade nicht (nur) um Wissen, sondern um Handeln (Tun) geht, heißt dies dann, dass man das moralische oder unmoralische Handeln der Schüler benoten soll? Das hieße aber letztlich: Gesinnungsüberprüfung. Die Produktion von Scheinheiligkeit und die Bestrafung von abweichender Gesinnung wären die üblen Folgen.

 

 

zu 4: Ethische Reflektion

 

Diese vierte und letzte Konzeption geht genau von diesem ungelösten Problem jeder Moralerziehung aus: nämlich von der Einsicht, dass dort, wo die selbstverständlich sozialisierte und gelebte homogenen Sittlichkeit verloren gegangen ist, diese nicht mittels einer expliziten Ethik im Rahmen einer moralischen Erziehung mehr in einem unmittelbaren Durchgriff auf das immer intransparente Bewusstsein der Schüler gelehrt und gelernt werden kann. Die plurale und deshalb immer auch nur relative Vernunft ist auch im Bereich der Ethik schon lange Wirklichkeit geworden. EU muss von diesem Faktum ausgehen, anstatt kontrafaktisch eine homogene und absolute Moral zu beschwören (und beleidigt zu sein, wenn die Welt ist, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte).

 

EU in diesem Sinne ist deshalb nur noch: (normaler) Unterricht über Ethik, d.h. eine klärende Reflexion ethischer Grundsätze angesichts einer kontingenten Lebensbewältigungspraxis. Ziel einer solchen diskursiven ethischen Orientierungssuche ist die ethische Urteilsbildung bzw. die „ethische Kompetenz“ (Höffe), also nicht die Sittlichkeit selbst. Nicht Moralität selbst soll gelehrt werden, sondern jene Qualifikationen sollen vermittelt werden, die Bedingung der Möglichkeit einer selbstbestimmten  ethischen Urteilsbildung sind. Nicht Einübung von Moral, sondern Erkenntnis der Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen moralischen (und unmoralischen) Verhaltens und Handelns wird angestrebt. Im Mittelpunkt stehen deshalb Fragen, nicht Antworten. Dort wo Antworten erscheinen, werden sie kritisch in Frage gestellt und erst danach ggf. als eigene übernommen. Nichts, auch nicht die Grundwerte, ist für die kritische Reflexion sakrosankt, und das nicht deshalb, weil sie nicht wichtig wären, sondern gerade weil sie so wichtig sind, dass wir unterstellen dürfen, dass sie auf einer jederzeit überprüfbaren „Einstimmung freier Bürger“ (Kant) gründen.

 

Man sollte sich hier in der Tat an das berühmte Diktum Kants erinnern, das dieser schon in der Vorrede zur ersten Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 publizierte: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“[33]

 

Ethische Überzeugungen und Einsichten können nicht durch Dekret verordnet werden und sind nicht durch Unterricht unmittelbar vermittelbar. Sie müssen selbst entwickelt werden. Der EU kann dazu nur die kognitiven, emotiven und sozialen Voraussetzungen erarbeiten und einen geschützten unterrichtlichen Rahmen bereitstellen, damit ethische Reflexion eingeübt werden kann. Weil es um ein gemeinsames Nachdenken über gut und böse geht und sich gerade darin praktische Vernunft ereignet, dass dies unter Bedingungen reziprok unterstellter Freiheit geschieht, kann es auch keine verbindliche Vorgabe von Inhalten und Themen geben (aber natürlich diesbezüglich Vorschläge).

 

Für einen solchen Unterricht gibt es auch keine bzw. keine einzelne Bezugsdisziplin; vielmehr ist der wissenschaftliche Kontext ein multidisziplinärer: praktisch sind alle Geistes- und Sozialwissenschaften, ja selbst die Naturwissenschaften relevante und von Fall zu Fall befragbare Bezugsdisziplinen. Prinzipiell werden, was den Geltungsanspruch der Normen betrifft, Lehrer und Schüler zu gleichberechtigten Diskurspartnern. Das heißt u.a.: es handelt sich hier nicht um einen schülerzentrierten Unterricht, der bloß die subjektiven Interessen und Probleme der Schüler thematisiert, sondern um eine verantwortete Strukturvorgabe aktueller ethischer Streitfragen durch den Lehrer im Horizont einer reichen ethischen Tradition, die im Rahmen eines gemeinsamen kritischen Gesprächs auf ihre aktuelle Geltungskraft überprüft wird.

 

Diese Position wird paradigmatisch in Hessen vertreten. Wir finden sie aber auch, wenngleich nicht in der gleichen Differenziertheit und Breite, in Hamburg, Niedersachsen, Saarland und Schleswig-Holstein vor. In Hessen geht es explizit um „ethische Urteilsbildung“ und nicht um Wertevermittlung: „Überzeugungen können nicht vermittelt werden“, heißt es lapidar[34] und weiter: „Der Ethik-Unterricht muss den Schülern die Freiheit der Überzeugung zusprechen, ihre Überzeugung respektieren“, aber deren ethische Implikationen transparent machen und ordnen helfen.

 

Selbstverständlich ist der so genannte ethische Mindestkonsens, die Grundwerte, auch für die organisatorischen und juristischen Voraussetzungen des EU verbindlich: „Aber niemand kann gezwungen werden, irgendeine Begründung für den Geltungsanspruch einer Wertvorstellung zu übernehmen.“ [35] Das bedeutet, dass der EU in der Schule wohl die Werte und Normen der Kultur behandelt. Sie sind jedoch keine absoluten und nichtdiskutierbaren Prämissen und Ziele, sondern Reflexionsgegenstand eines EU, der sich bewusst ist, dass die Geltung von ethischen Normen nur auf einer freien Einsicht freier Bürger gründen kann.

 

„Die Rahmenrichtlinien gehen von den Wertvorstellungen und ethischen Grundsätzen aus. Gemeint sind damit die Werte und Normen der Moral, die jedoch in den Prozess ethischer Urteilsbildung nicht als fraglos zu befolgende Handlungsvorschriften, sondern als Inhalte der Reflexion abweisenden absoluten Geltungsanspruch verloren haben und nur noch in der Relation zu der sie tragenden Weltanschauung und Tradition und unter Angabe von guten Gründen Geltung beanspruchen können (…) Im Prozess ethischer Urteilsbildung stehen mithin die Inhalte selbst in Frage.“[36]

 

Ein solcher EU thematisiert nicht nur Ethik, sondern ist selbst schon eine moralische Veranstaltung, weil in der gleichberechtigten Verhandlung der Geltungsansprüche ethischer Normen und Werte sich Sittlichkeit ereignet. Dieser Prozess ist deshalb auch nie abgeschlossen und nur verbindlich, sofern er sich auf eine freie Akzeptanz der Geltungsansprüche berufen kann.

 

Als Vorteile dieser Position sehe ich die realistische Inanspruchnahme einer skeptischen Vernunft, die das angestrebte Ziel nicht in einem Fehlschluss schon voraussetzt. Sie vertritt eine mittlere Position zwischen Schülerorientierung und Kulturorientierung, weil sie die Überführung der Kulturgüter in Bildungsgüter dem Bildungsprozess selbst anvertraut. Sie ist kein Gesinnungsunterricht, ohne gesinnungslos zu sein, und sie vermeidet die Beliebigkeit der Inhalte, ohne sie verbindlich zu verordnen. Als Nachteil sehe ich an, dass ein solcher Unterricht durch die Ermangelung professioneller, und das heißt auch: lehrbarer Qualifikationen, die über bloße Kenntnisse in Praktischer Philosophie und Pädagogik hinausgehen, leicht zu einer Überforderung des Lehrers führen kann. Von ihm wird erwartet, dass er kompetent und sicher auch seine Inkompetenz und Unsicherheit (in Geltungsfragen) verhandeln und mit hoher Kontingenz umgehen kann und den ethischen Unterricht auf einer mittleren Ebene zwischen Letztbegründung und Unbegründbarkeit, zwischen Dogmatismus und Unverbindlichkeit, zwischen Wertabsolutismus und absoluten Wertrelativismus zu gestalten vermag.

 

 

  1. Abschließende Thesen

 

Ich will abschließend das Resümee in Form von sieben Thesen ziehen:

 

  1. Der EU in Deutschland besitzt konzeptionell und juristisch in den verschiedenen Bundesländern eine sehr heterogene Gestalt. Das ist für ein Fach, in dem es um das Aushandeln des Guten und Richtigen geht, nicht unbedingt von Nachteil, sofern die verschiedenen Richtungen miteinander im Gespräch bleiben. Es gilt, dieses Gespräch zu institutionisieren und auf Dauer zu stellen.

 

  1. Deutliche Unterschiede in der juristischen und konzeptionellen Ausprägung des EU lassen sich entlang der beiden binären Codes „katholisch – evangelisch“ und „CSU-regiertes Bundesland“ und SPD-regiertes Bundesland“ entdecken, und das vor allem dort, wo sich beide Codes überlappen. Die Kirchen und die Parteipolitik sind deshalb zu diesem Gespräch einzuladen.

 

  1. Die Heterogenität in den juristischen Voraussetzungen und theoretischen Konzeptionen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Unterschiede in der ethischen Kommunikation nicht unbedingt etwas über die konkrete Unterrichtspraxis aussagen müssen. Jenseits der theoretischen Distinktionen mag der konkrete Unterricht in den verschiedenen Ländern und in den verschiedenen Schulen sehr ähnlich verlaufen. Die theoretischen Positionen alleine vermögen nichts über die Qualität des ethischen Unterrichts in der Praxis auszusagen.

 

  1. Man findet gelegentlich die Meinung vertreten, der EU möge die unterschiedlichen didaktischen Konzeptionen entlang der verschiedenen Schulstufen abarbeiten, also „Lebenshilfe“ in der Primarstufe, „Ethische Reflektion“ in der Sekundarstufe I und „Praktische Philosophie“ in der Sekundarstufe II. Ich halte es für realistischer, diese drei Konzeptionen als konstitutive Dimensionen des EU schlechthin zu interpretieren und es der pädagogischen Klugheit des Lehrers und dem situativen Kontext des Unterrichts selbst zu überlassen, welche Akzente gesetzt werden. Nur durch eine solche integrative Konzeption vermag der EU die jeweiligen Schwächen der einzelnen Ansätze zu kompensieren.

 

  1. Ob heute eine Moralerziehung unterrichtlich überhaupt noch möglich ist, halte ich, einmal ganz abgesehen von der Frage, ob sie überhaupt wünschenswert wäre, für fraglich. Schon Aristoteles konnte sich eine solche Erziehung nur als Einübung in einen gelebten Lebenszusammenhang vorstellen. Dort wo es einen solchen ungebrochenen sittlichen Lebenskontext, etwa in religiösen Systemen, heute noch gibt, mag eine Moralerziehung durchaus angebracht sein. Im ethischen Unterricht an öffentlichen Schulen aber muss der staatliche Schulträger m. E. eine Moralerziehung strikt vermeiden, weil die Gefahr eines gefährlichen Kurzschlusses von staatlicher Macht (Legalität) und moralischer Entscheidung (Legitimität) besteht.

 

Selbstverständlich hat der Staat als Schulträger das Recht, normative Vorgaben zu setzen, ja er kann sogar Lehrer und Schüler zwingen, sich mit bestimmten Grundnormen und –werten auseinanderzusetzen. Aber das ist auch schon alles: die Produktion einer kollektiven Sittlichkeit durch Dekret ist ihm (und seiner Pädagogik) – empirisch wie ethisch – versagt. Dort wo es versucht worden ist (z.B. im Nationalsozialismus, in der DDR u. a.), sind die Ergebnisse unmoralisch. Es gehört auch zur Aufgabe eines verantwortlichen RU, vor Religion zu warnen, und es gehört auch zur Aufgabe eines verantwortlichen EU, vor Ethik zu warnen.

 

  1. Es wird Zeit, die Ausbildung der Ethiklehrer zu professionalisieren und grundständige Lehramtsstudiengänge einzurichten. Erste Vorüberlegungen und Planungen gibt es (insbesondere in den neuen Bundesländern). Ich weiß, dass der professionelle Dilettantismus unserer Ethiklehrer durchaus nicht nur Nachteile, sondern auch liebenswerte Vorteile besitzt (von denen die bisherigen Erfolge zehren), aber auf Dauer ist es im Interesse der Stabilisierung des Faches unumgänglich, die Ausbildung zu institutionalisieren und die Fort- und Weiterbildung zu stabilisieren.

 

  1. Es ist bildungspolitisch an der Zeit, die Ersatzfachkonstruktion des EU zu problematisieren und vor allem an die Kirchen zu appellieren, auf ihre diesbezüglichen Privilegien, die sie in einer ganz bestimmten historischen Situation (einer Volkskirche) erhalten haben, freiwillig zu verzichten. Diesbezügliche Überlegungen gibt es gibt es auch in den Kirchen, insbesondere der Ev. Kirche, durchaus. Ich denke hier vor allem an meinem Lehrer Karl-Ernst Nipkow, der hier ein prominenter Vordenker ist. „Von kirchlicher Seite wird überlegt, ob nicht das wachsende Gesicht der hier verhandelten Seiten der allgemeinen Bildung in einer eigenständigen Fächergruppe „Religion – Ethik – Philosophie“ seinen institutionellen Ausdruck finden sollte im Sinne eines Wahlpflichtbereiches, dem die Fächer evangelische und katholische Religionslehre, Ethik- bzw. Philosophieunterricht, Islamunterricht und ggf. jüdischer RU angehören sollten. Auf jeden Fall muss der Ethikunterricht als ordentliches Lehrfach ausgebaut werden.

 


 

[1] Ich unterscheide im abnehmenden Umfang ihrer Extension die Begriffe: „Ethische Erziehung“, „Ethischer Unterricht“ und „Ethikunterricht“. Ethische Erziehung ist eine Erziehung, die ethische Erziehungsziele intendiert, ethischer Unterricht ist ein Unterricht, der ethische Lernziele verfolgt. Ethikunterricht ist ein Unterrichtsfach, das unter verschiedenen Namen erscheint: „Ethik“, „Werte und Normen“ u.a.m.

 

[2] Schon um Raum zu sparen, verwende ich die im Text vorkommenden generischen Maskulina in ihrer nichtexklusiven Bedeutung.

 

[3] Um ein Beispiel zu geben: 1968 erschien der Bestseller „Das Elend des Christentums“ von Joachim Kahl

 

[4] Beispielsweise nahmen allein in Niedersachsen 1978 42,88% aller Schüler im Alter von über 10 Jahren, das waren von 718.990 Schülern immerhin 307.439, am RU nicht mehr teil. (vgl. Sigurd Körber, Das Problem mit der Ethik. Zwangsverordnung oder Chance eines neuen Schulfaches, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 7/1985, S. 171-179)

 

[5] Vgl. Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (Hg.) Ethik-Unterricht: Einführung eines Faches. Materialien zur Schulentwicklung Heft 9, Wiesebaden 1986, S. 70

 

[6] In Bayern beispielsweise sank die Abmeldequote vom RU nach Einführung des EU 1973 um ein Drittel (vgl. Körber 1985, Anm. 4, S. 175)

 

[7] Inzwischen bedauern auch viele Religionspädagogen diese anfängliche Diskriminierung des EU und plädieren für eine gleichberechtigte Stellung des neuen Faches. In der Praxis der Fortbildung und des Unterrichts dürfte der kooperative Umgang zwischen Theologen und Ethikern schon lange der Normalfang sein.

 

[8] Vgl. Gerd Eggers: Religion, Ethik und Lebensgestaltung als Inhalte schulischer Bildung: Entwicklungen und Probleme in den neuen Bundesländern und Berlin (Ost), in: Hartmut Zinser (Hg.), „Herausforderung Ethikunterricht“, Marburg 1991, S. 39-52

 

[9] DER STERN, 29.12.1977

 

[10] Holger Börner in: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung 1986, a.a.O., S. 67

 

[11] Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986.

 

[12] Vgl. zu Belgien: Eduard Fey. Der belgische Moral-Unterricht, in: Die Pädagogische Provinz, 19. Jg. 1965, S. 435-443 – zu Österreich: Konrad Liessmann, Probleme des Ethikunterrichts, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 4/1981, S. 143-147 – zu Spanien: Ignacio Zumeta Olano, Ethikunterricht als Alternative zum Religionsunterricht in Spanien, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 4/1981, S. 170-175 – in den USA: Gottfried Kleinschmidt, Werteziehung in den USA. Das Programm des Hastings Center, in: Südwestdeutsche Schulblätter 2/1982, S. 82-93

 

[13] Nach Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 32, 9.8.1981, S. 17

 

[14] Erich Weniger, Didaktik als Bildungslehre, Teil 1: Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans, Weinheim 1952, S. 22

 

[15] Zum Beispiel die Position der GEW und des Elternbundes Hessen  zu den dortigen Rahmenrichtlinien Ethik, vgl. GEW/Elternbund Hessen (Hg.), Ethische Erziehung in der Schule, Frankfurt a. M. 1983. Vgl. im übrigen den differenzierten Überblick über didaktische Ansätze im EU bei H. Schmidt, Didaktik des Ethikunterrichts Bd. 1 und Bd. 2, Stuttgart 1983

 

[16] Nicht ganz! Denn unter dem Begriff der Praktischen Philosophie wird gelegentlich auch noch die Anthropologie und die Ästhetik gezählt oder – seit Aristoteles – die Politik und die Rechtsphilosophie

 

[17] Vgl. Wolfgang Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 1963, S. 28 ff

 

[18] Wolfgang Schwoerbel. Das neue Unterrichtsfach „Ethik“. In: Lehren und Lernen, Heft 2, 1985, S. 9-38, hier  S. 26 f.

 

[19] Vorläufiger Lehrplanhinweis 1991, S. 3

 

[20] Empfehlungen zur Einführung eines Unterrichtsfaches „Lebensgestaltung/Ethik“ in den Schulen ostdeutscher Länder, in: Geschichte, Erziehung, Politik (GEP), Beilage zum Heft 6/1990, S. 2-11, hier S. 4

 

[21] DIE ZEIT 27/1992

 

[22] Der Begriff der „Werterziehung“ scheint weiter zu sein als der einer „Moralerziehung“ oder „Sittlichkeitserziehung“, weil er sich nicht nur auf Normen des sozialen Zusammenlebens erzieht, sondern auf alles, was gut, wahr, schön und heilig ist (so beispielsweise in Bayern), vgl. Helmut Zöpfl. Vom Wert der Werte. Über das Wahre, Gute, Schöne und Heilige, in: Herbert Huber (Hg.), Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht, Asendorf 993, S. 139-147

 

[23] Wolfgang Brezinka, „Werte-Erziehung“ in einer wertunsicheren Gesellschaft, in: H. Huber (Hg.) 1993 (siehe Anm. 22) S. 53-76, hier S. 60

 

[24] dito, S. 70

 

[25] dito, S. 72

 

[26] Bernd Lohse, Ethik. Werterziehung als Unterrichtsfach in Bayern, in: Zeitschrift die die Didaktik der Philosophie 3/1981, S. 158-162

 

[27] dito, S. 158

 

[28] dito, S. 162

 

[29] Herbert Huber, in: Huber 1003 (siehe Anm. 22), S. 22

 

[30] Das Begründungsproblem wird in der Regel durch Rekurs auf eine religiöse Prämisse („Gott“), auf die juristisch fixierte Tradition („Gesetzgebung“) oder naturrechtlich auf das „natürliche“ Sein („Natur“) „gelöst“.

 

[31] Herwig Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik, München 1969, S. 18 ff

 

[32] Vgl. Alfred K. Treml, Über die Unwissenheit, in: Zeitschrift für Pädagogik 4/1994, S. 529-537. Zur Kritik an der bayerischen Konzeption auf der Basis der Lehrplanentwicklung bis 1979 vgl. O. Höffe, Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft, in: Ethik und Politik, Frankfurt a. M., 1979, S. 453-481

 

[33] KrV A 5. An anderer Stelle heißt es: „Die Vernunft muss sich in allen Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Anspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto, ohne Zurückhaltung muss äußern können“ (KrV B 766 f.)

 

[34] Reiner Baumann, Manfred Pöpperl, Fritz Zimbrich, Ethik-Unterricht. Einführung eines neuen Faches, in: Hessisches Institut (Hg.), 1986, S. 1-58, hier S. 7

 

[35] dito, S. 9

 

[36] dito, S. 18

 

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