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Materialien zum Ethikunterricht

 

Jean Meslier


1664 – 1729

Priester, Philosoph, Atheist und Frühaufklärer

 

(auch: Abbé Meslier; * 15.6. 1664 in Mazerny/Ardennen; ? 17.6. 1729 in Étrépigny), ein katholischer Landpfarrer, der unter dem Eindruck der Unterdrückung und Ausbeutung der Landbevölkerung durch Adel und Kirche zum schärfsten Religions- und Sozialkritiker seiner Zeit wurde. Sein posthum veröffentlichtes politisches „Testament", indem er sich eindeutig zum Atheismus bekannte, wurde zum bedeutendsten Dokument der europäischen Frühaufklärung.

Der Sohn eines Händlers wurde mit 25 Jahren Pfarrer im Dorf Étrépigny. Bis zu seinem Tod im Jahr 1729 blieb er in diesem Amt. Er empörte sich über die schlechte Behandlung der Bauern durch den Adel und prangerte diese offen in seinen Predigten an. Dafür wurde er mehrfach von seinem Bischof gerügt und schließlich zum Schweigen gebracht. Offen antireligiös oder antifeudal aufzutreten war lebensgefährlich. Zu dieser Zeit endeten in Frankreich Ketzer noch auf dem Scheiterhaufen.

Meslier schrieb nun seine Erfahrungen und Gedanken nieder. Seine umfangreichen Ausführungen, entstanden in Auseinandersetzung mit dem systemkonformen Werk Demonstration der Existenz Gottes von François Fénelon. In drei handschriftlichen Exemplaren über eintausend Seiten hinterließ Meslier eine fundamentale Schrift der Herrschafts- und Religionskritik. Pensées et sentiments (nach Voltaires Ausgabe hat sich der Namen „Testament" durchgesetzt) machte Meslier zu einem Pionier des Zeitalters der Aufklärung.

Meslier war der erste in der Neuzeit, der einen konsequenten Atheismus und Materialismus vertrat. Zugleich übte er leidenschaftliche Herrschaftskritik an den feudalen Verhältnissen und entwickelte eine egalitäre frühkommunistische Konzeption der Gesellschaft. Geheime Kopien eines Werks zirkulierten und gelangten in Umlauf. Friedrich II., Rousseau, Voltaire, Holbach, Diderot, d'Alembert und andere Enzyklopädisten lasen es und wurden davon beeinflusst.

Voltaire ließ 1761 Auszüge aus Mesliers Werk anonym veröffentlichen. In dieser Ausgabe wurde Mesliers radikaler Atheismus und Antifeudalismus jedoch stark entschärft. Voltaire umschrieb und milderte den Text, was den ursprünglichen Inhalt zum Teil entstellte. Auch Baron Holbach veröffentlichte 1772 ein Werk über Meslier und sein Testament. Es handelte sich dabei allerdings um von Holbach im Anschluss an Meslier formulierte Texte. Dieser Text erlebte am Vorabend der Französischen Revolution eine erfolgreiche Neuauflage, allerdings ohne Mesliers „agrarkommunistische" Forderungen. In den Fraktionskämpfen der Revolution nahmen sich hauptsächlich die Anhänger von Hebert und Babeuf Mesliers Forderungen an. Ein Vorschlag im Konvent, Meslier im Tempel der Vernunft ein Standbild zu errichten, wurde von den Jakobinern im November 1793 abgelehnt, da sie befürchteten, „dass die von den Hebertisten geförderte atheistische Propaganda zum Abfall der Bauernmassen von der revolutionären Sache führen könnte".

Im 19. Jahrhundert erinnerten französische Arbeiter und deutsche Freidenker an Meslier. Fritz Mauthner würdigte in seinem Werk „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" die Schrift von Meslier, äußerte aber Zweifel an dessen Urheberschaft. Von französischen Forschern wurde allerdings zwischenzeitlich einwandfrei die Authentizität der Manuskripte nachgewiesen, durch Handschriftvergleiche mit Mesliers Einträgen in Kirchenbüchern von Etrépigny und Balaives und den handgeschriebenen Exemplaren des „Testaments" in der Bibliothèque nationale.

Erst 1970 bis 1972 erschien eine französische Gesamtausgabe des „Testaments", 1976 eine auszugsweise deutsche Übersetzung.

Quelle: Humanistischer Pressedienst (http://hpd-online.de)

 

Mesliers Testament ist in Deutsch erhältlich:

Hartmut Krauss (Hrsg.)
Das Testament des Abbé Meslier
Die Grundschrift der modernen Religionskritik
Hintergrund Verlag, 2005
403 Seiten, gebunden, Euro 19,80

 

Zitate:

 

„Die Religion unterstützt die politische Macht, wie schlecht sie auch sein mag, und die Regierung wiederum schützt die Religion, wie nichtig und falsch diese auch immer ist. Auf der einen Seite befehlen die Priester, die Vertreter der Religion, bei Strafe der Verdammnis und ewigen Fluchs den Gehorsam gegenüber den Beamten, den Fürsten und dem Herrscher, da sie von Gott eingesetzt seien, um die anderen zu regieren, während die Fürsten umgekehrt dafür sorgen, dass den Priestern Achtung entgegen gebracht wird.“

 

"Denn es ist weder zu glauben noch anzunehmen, dass ein allmächtiger Gott, der, wie man sagt, unendlich gut und weise ist, den Menschen Gesetze und Vorschriften hätte geben wollen, aber nicht gewollt hätte, dass diese sichere und zuverlässigere Zeichen und Beweise der Wahrheit aufweisen als die der Betrüger, von denen es doch auf der Welt so unendlich viele gibt.

 

"Steht auf, vereint Euch gegen Eure Feinde, gegen die, die Euch mit Elend und Ignoranz bedrücken. Verwerft alle die nichtigen und abergläubischen Praktiken der Religionen. Schenkt den falschen Mysterien keinerlei Glauben, lacht über alles, was Euch die selbstsüchtigen Priester sagen. Denn dies ist der verhängnisvolle und wahre Grund aller Eurer Leiden... Euer Heil ist in Euren Händen, Eure Erlösung hängt nur von Euch ab, denn es seid Ihr allein, von denen die Tyrannen ihre Kraft und ihre Macht beziehen."

 

"Macht die tyrannische Regierung der Fürsten und Priester überall schändlich. Unterstützt Euch in dieser so gerechten und so notwendigen Sache, in der es sich um das Allgemeinwohl aller Völker handelt."

 

"Behaltet die Reichtümer und Güter, die Ihr im Schweiße Eures Angesichts erarbeitet für Euch. Gebt nichts davon an diese prächtigen und unnützen Faulenzer, nichts an all diese Mönche und Kleriker, die unnütz auf der Erde wohnen, nichts an diese hochmütigen Tyrannen, die Euch verachten..."

 

„…so muss man notwendig anerkennen, dass die Materie ihr Sein und ihre Bewegung aus sich selbst hat und es unnütz ist, auf die Existenz eines allmächtigen Gottes zurückzugreifen, den es nicht gibt und der auch gar nichts machen könnte, wenn es ihn gäbe …“

 

Als positive Botschaft an die Nachwelt empfahl Jean Meslier,

 

„dass die Menschen ihr Hauptinteresse im Leben darauf richten sollen, Kunst und Wissenschaft weiter zu bringen und dabei allein dem Lichte der menschlichen Vernunft zu folgen haben“ und

 

dass sie, um gute Gesetze aufzustellen, nur den Regeln der menschlichen Klugheit und Weisheit folgen dürfen, das heißt den Regeln der Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und natürlichen Gleichheit …“

 

Jean Meslier (1664 - 1729) – Vom Priester zum Atheisten

von Dietmar  Michalke, 6.6.2013

 

Jean Meslier arbeitete über 40 Jahre als Pfarrer in der französischen Gemeinde von Étrépigny. Bedingt durch Widersprüche innerhalb der christlichen Leere sowie sozialer Missstände wendet er sich dem Atheismus zu. Er verfasst das bekannte Testament des Abbé Meslier, in dem er seine Kritik an Religion, Kirche und Adel beschreibt. Aus berechtigter Furcht vor gnadenloser Verfolgung lässt er es jedoch erst nach seinem Tode (1729) veröffentlichen.

 

 

1. Herkunft, Jugend; Ausbildung

 

Jean Meslier wurde am 15. Juni 1664 in Mazerny (Frankreich) als Sohn eines Stoffhändlers geboren. In der Schule fällt er durch  Fleiß und Intelligenz auf. Auf Wunsch seiner Eltern entscheidet er sich für das Priesteramt, obwohl er nach eigenen Aussagen damals bereits "die Irrtümer und Missstände geahnt" hat. Meslier studiert fünf Jahre in Reims Theologie und Philosophie.

 

2. Berufsweg

 

Nach dem Studium wird er 1689 zum Priester geweiht und beginnt sofort seine Arbeit in der Gemeinde Étrépigny. Seine Gemeindemitglieder üben ländliche Berufe wie Weinbauern oder Holzarbeiter aus. Jedoch sind seine Amtskollegen in der Umgebung schon wiederholt wegen Aufsässigkeit gegenüber dem Adel und dem Bischof von Reims aufgefallen. Sie kritisieren die sozialen Ungerechtigkeiten und die starren Glaubensvorstellungen. Auch Mesliers gerät 1716 ins Visier seines Bischofs, weil er dem Adeligen de Touly die Fürbitte verweigert.  Der Grund war, dass de Touly Bauern misshandelte. Meslier kommt mit Verwarnungen und einem kurzen Arrest in einem Priesterseminar davon. Offenbar wird Meslier danach vorsichtig, denn es kommt zu keinen weiteren Klagen. Aber bald danach, vermutlich 1718, beginnt er im Geheimen mit seinen religions- und gesellschaftskritischen Arbeiten. Er versieht jedoch sein Priesteramt weiterhin unbeanstandet. Er betont jedoch später in seinen Schriften, dass er dieses ohne Eifer, mit innerer Distanz und schlechtem Gewissen, weil er seinen "Pfarrkindern" die Religion lehrte, die er zutiefst ablehnte. Am Ende hat er ein umfangreiches Werk von 3500 Druckseiten verfasst, das er außerdem noch zweimal abschreibt. Seine Hoffnung ist, dass es wie eine Saat aufgeht und dass Leute mit Verstand und Talent diese Gedanken weiterentwickeln und verbreiten.

 

Meslier weist durch einen Brief darauf hin, dass er drei Exemplare seines  atheistischen Vermächtnisses in einer Gerichtskanzlei hinterlegt hat, die nach seinem Tode veröffentlicht werden sollen. Rasch kommen weitere Kopien in Umlauf. Viele bedeutende Persönlichkeiten beschaffen sich dieses Werk. Seine Vorsicht war berechtigt. Denn zu seinen Lebzeiten mussten mehrere Priester ihre religionskritische Haltung mit dem Leben bezahlen. So wurde z.B. Pfarrer Lefèvre um 1700 in Reims verbrannt.

 

3. Worin lag sein atheistischer Bezug, sein Beitrag?

 

Jean Mesliers Testament besteht aus 8 Themengebieten, in denen er auf unterschiedliche Weise die Religion widerlegt:

 

1. Religionen als menschliche Erfindungen

2. Irrtum, Betrug und Illusionen durch blinden Glauben

3. Ablehnung angeblich göttlicher Offenbarungen

4. Prophezeiungen des Alten Testamentes, die nicht eintrafen

5. Irrtümer der Moral und Lehre des Christentums

6. Verurteilung des Bündnisses zwischen Kirche und tyrannischen Herrschern

7. Widerlegung der Existenz von Göttern

8. Ablehnung der Vorstellung einer unsterblichen Seele

 

Die Nichtexistenz Gottes begründet Meslier mit dessen offensichtlicher Abwesenheit. Ein Gott, der von den Menschen geliebt und angebetet werden will, hätte als vollkommenes Wesen die Vernunft, sich den Menschen eindeutig zu erkennen zu geben. Ferner würde er seinen Willen deutlich äußern, statt die Menschen darüber streiten zu lassen, was der richtige, gottgefällige Weg sei. Aus dem hartnäckigem Schweigen folgt, dass sich Gott entweder nicht um die Menschheit kümmert oder er überhaupt nicht existiert. Christen behaupten nun, man müsse eben einfach daran glauben. Wenn der Mensch jedoch auf seine Vernunft verzichten muss, um Gott zu erkennen, dann ist dem Betrug Tür und Tor geöffnet. Ein unendlich gütiger und weiser Gott würde solch einen Weg gewiss nicht wählen.

 

So ein vollkommenes Wesen wie Gott hätte auch nicht solch eine erbärmliche Welt erschaffen, das voll von Übeln und Schlechtigkeiten ist. Das angebliche Wunderwerk Natur erfordert es, dass sich die Lebewesen gegenseitig töten müssen, um zu überleben.  Das ist eben nicht, wie Christen sagen, die Folge der Erbsünde. Denn das Töten ist in der Natur notwendig, da es bald zu viele Menschen und Tiere gäbe, als dass die Erde sie fassen könnte.

 

Nach Meslier existiert nichts als Materie. Sie ist das einzige "notwendige Sein". Er weist darauf hin, dass die Ordnung der Welt allein von den Naturkräften hergestellt wird. Meslier behauptet, dass die mathematischen Wahrheiten absolut seien und schließt daraus auf die Ewigkeit der Materie. Daher gab es nie einen Akt der Schöpfung. Der Idee der Erschaffung der Welt aus dem Nichts erteilt er eine Abfuhr. Die Materie trägt die Fähigkeit zur Bewegung in sich, sodass es eines Gottes nicht bedarf. Wäre das anders, so wäre der allmächtige, allgütige Gott am Bösen in der Welt schuld. Undenkbar! Als Materialist lehnt Meslier natürlich die Existenz einer (unvergänglichen) Seele ab. Das Denken und Fühlen der Menschen ist nach Meslier nichts Geistiges, sondern Folge der Materie. Ohne unsere Sinnesorgane, ohne unser Gehirn erkennen und denken wir nichts.

 

Christen begründen ihre Behauptungen gern mit göttlichen Offenbarungen. Das lässt Meslier nicht gelten. Es zählen nur Erkenntnisse, die aufgrund von Beobachtungen und Erfahrungen gewonnen wurden. Die Bibel lässt er als Quelle von Wahrheiten nicht gelten. Wer, so fragt Meslier, garantiert für die Zuverlässigkeit der biblischen Autoren? Wir wissen ja nicht einmal, wer sich hinter den Namen Mathäus, Markus, Lukas und Johannes verbirgt. Willkürlich hat die Kirche ihre Berichte ausgewählt, während sie andere als apokryph brandmarkte und ablehnte. Welchen Wert haben all diese Erzählungen von Fremden, die ohne Autorität und Bedeutung für uns sind? Warum sollten wir all diese unglaublichen Geschichten für wahr halten? Mühelos zeigt Meslier zahlreiche Widersprüche innerhalb der Bibel auf. Er hält nichts von einem Gott, der z.B. sechzigtausend Menschen tötet, um David dafür zu bestrafen, dass er sein Volk zählen ließ. Theologen behaupten einfach, diese Berichte müssten gleichnishaft oder symbolisch verstanden werden. Damit können sie die Aussagen der Bibel jedoch beliebig abändern, ihr ihre eigene Bedeutung geben und sich zu Deutern des Willens Gottes aufspielen.

 

Für Meslier war Jesus ein Verrückter und Fanatiker. Die Menschen, die Jesus angeblich retten wollte, wollte er mit Blindheit schlagen und ewig verdammen. Ferner sei er gekommen, "um Zwietracht zu sähen".  Verrückt sei seine Forderung, sich wie die Vögel im Himmel zu verhalten und nichts zu sähen und zu ernten und dennoch immer zu essen zu haben. Was wäre, so fragt Meslier, wenn das die Menschen befolgten? Würde der himmlische Vater sie mit dem Nötigsten versorgen?  Christus hat behauptet, man brauche nur zu bitten, dann würden sich die Wünsche erfüllen. Warum gibt es dann noch soviel Übel wie Kriege, Krankheit und Schlechtigkeit in der Welt?

 

Unsinnig ist für Meslier auch die Erlösungsgeschichte. Das Böse, die Sünde und das Leiden sind immer noch da - ja, nehmen ständig zu. "Jeden Tag werden die Menschen lasterhafter und bösartige, [...]. Theologen sagen, dass immer mehr Verstorbene in  die Hölle kommen. Also ist die Erlösung entweder gescheitert oder ein Schwindel. Wäre Jesus wirklich Gott gewesen, so hätte er doch als erstes Wunder die Beseitigung von Leid und Schlechtigkeit vollbracht. Und hätte Christus durch seine Selbstaufopferung die Menschen erlöst und alle Sünden gesühnt, warum müssen dann die Christen immer noch Buße tun? Gläubige behaupten darauf hin, Gott ließe all das Böse zu, um dem Menschen einen freien Willen zu gewähren. Ein äußerst fragwürdiges Argument! Was würde man von einem Familienvater halten, der seine Kinder nicht davon abhielte, sich ins Unglück zu stürzen. Würde man ihm die Missachtung des freien Willens vorwerfen? Gäbe es wirklich Gott, so würde er als unendlich gütiger und mächtiger Vater tatenlos zusehen, wie sich Milliarden seiner Kinder gegenseitig umbringen und in die Hölle kommen. Und der Gipfel des Unsinns ist es, dass all dieses Leid durch die Sünde eines einzigen Menschen verursacht worden sein soll und die Erbsünde auslöste. Und Gott steigert das Absurde noch, indem er seinen Sohn schickt und töten lässt, um diese Erbsünde zu wieder gut zu machen. Er lässt dazu eine noch viel größere Sünde, den Gottesmord, zu! Etwas Absurderes kann sich Meslier nicht vorstellen!

 

Harsche Kritik übt Meslier auch an der christlichen Moral. Sie verherrlicht Leiden und Schmerzen. Diejenigen, die verzweifelt sind, seien glückselig. Idealisiert wird, was den menschlichen Bedürfnissen zuwider läuft. Schlechten Menschen soll man laut Bibel keinen Widerstand entgegen bringen. Würde man sich daran halten, so würde bald das Chaos herrschen.

 

Der leidende Mensch werde im Jenseits für sein Elend im Diesseits belohnt, so behauptet es das Christentum. Meslier stellt bohrende Fragen: "Wer hat ihnen gesagt, dass dem so sei? Welche Erfahrungen haben sie damit gemacht? Welche Beweise haben sie dafür? Gewiss keinen einzigen wenn nicht den, [...] der nur ein blinder Glaube an Dinge ist, die sie nicht sehen, die nie jemand gesehen hat und nie jemand sehen wird."

 

Meslier wirft der Kirche ferner vor, sich auf die Seite der Tyrannen gestellt zu haben. Sie unterstützt eine große Zahl von Schmarotzern, die von der Arbeit der Armen leben. Er ruft auf, nicht auf ihre Priester zu hören, die selbst nicht glauben, was sie dem Volke weismachen.

 

4. Mit wem hatte er in der atheistischen Szene Kontakte. Wo war er dort engagiert, tätig, von Einfluss?

 

Meslier dürfte weitgehend alleine gearbeitet haben, weil er sein Wirken geheim halten musste. Jedoch sind aus seinem Nachlass Bücher bekannt, aus denen er sich informiert hat. Eines davon stammt aus der Feder des Kirchenvertreters Fénelon. Dieser verfasste ein Werk gegen den Atheismus, Cartesianismus und Spinozismus. Meslier hat mit Leidenschaft Fénelons Argumente zerflückt. Zahlreiche handschriftliche Anmerkungen zeigen, dass er hier Gedanken entwickelte, die in seinem Vermächtnis wieder auftauchen. Weiteres Wissen bezog Meslier aus den Werken Montaignes, Rabelais, Malebranche sowie den antiken Philosophen Epikur und Lukrez. Persönliche Kontakte zu anderen Atheisten hatte er wohl nicht. Aber er mutmaßte, dass "es sogar mehr von ihnen [gibt], als man glaubt."

 

5. Allgemeine Wirkung. Bezug zu heute? Aktuelle Anknüpfung an seinen Thesen.

 

Mesliers Werk verbreitete sich rasch nach seinem Tode. Bekannte Philosophen und einflußreiche Politiker lesen seine Werke. 1748 erwähnt sie La Mettrie in Berlin. Friedrich II besitzt Mesliers Buch, Rousseau besorgt sich ebenfalls eines. Voltaire fertigt eine Kurzfassung an. Allerdings benutzte er diese Arbeit, um seine eigenen Ideen zu verbreiten. Er verfälschte sie bewusst und schob Meslier gar einen deistischen Gottesglauben unter. Der wahre Meslier war Voltaire wohl zu gefährlich. Andere Philosophen wie Diderot, Helvétius, La Mettrie und d'Holbach erkennen diese Verfälschungen und rücken Mesliers Bild in der Öffentlichkeit wieder gerade. Ausgerechnet der königliche Zensor Abbé de la Chappelle wurde durch Mesliers Schriften zum Atheisten.

 

Im 19. Jahrhundert waren es holländische Freimaurer sowie Mitglieder der atheistischen Vereinigung Dageraad, die Meslier aufgriffen und seine Arbeiten neu verlegten. Mit der Verbreitung des Marxismus wurde auch Meslier wieder bekannter. Der Russe Deborin sah in Meslier den "Vater des Materialismus und Atheismus" und veröffentlicht dessen Werke 1925 auf Russisch.

 

Meslier war durch sein Werk nicht nur Wegbereiter der Französischen Revolution. Seine freigeistigen und sozialen Ideen beflügelten auch die fortschittlichen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert auf dem Weg zur Demokratie und Befreiung der arbeitenden Bevölkerung.

 

(Quellen: George Minois, „Geschichte des Atheismus“, Hermann Böhlaus Nachf. Verlag, Weimar 2000, ISBN 9783740011048, Wikipedia)

 

 

Friedrich Hagen

Jean Meslier - Ein Atheist im Priesterrock

 

Jean Meslier und die französischen Freidenker des 17. und 18. Jahrhunderts

 

  

Diesen Vortrag hielt Friedrich Hagen auf Einladung des Bundes für Geistesfreiheit (bfg) am 25. März 1975 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg

 

 

 

Liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren,

kommen Sie mit mir im Geist in ein nordfranzösisches Dorf. Es ist tiefe Nacht. Hinter sorglich verschlossenen Türen und Fenstern sitzt ein Mann in seiner Stube am Tisch. Beim Flackern einer Kerze beschreibt er ein großes Blatt Papier mit seiner energischen klaren Schrift:

"Meine lieben Freunde, da es mir nicht verstattet ward und da es sogar von fatalen Folgen gewesen wäre, zu meinen Lebzeiten euch offen zu sagen, was ich von Lenkung und Regierung der Menschen, von ihren Religionen und ihren Sitten halte, so habe ich mich dazu entschlossen; es euch immerhin nach meinem Tode zu sagen, . ."

Mit diesem Satz beginnt der Mann das Vorwort zu einem geistigen Vermächtnis, das aus hunderten von engbeschriebenen Blättern besteht. Obenauf liegt die schon gilbende Seite mit dem sauber kalligraphierten Titel:

"Memorandum der Gedanken und Überzeugungen von J.M. betreffend einen Teil der Irrtümer und der Missbräuche in Lenkung und Regierung der Menschen; ferner klare und offene Darlegung der Nichtigkeit und Unwahrheit aller Gottheiten und «amtlicher Religionen der Welt; bestimmt für seine Pfarrkinder nach seinem Tode, um ihnen und ihresgleichen als Zeugnis der Wahrheit zu dienen.“

Der Mann holt ein Blatt aus dem Packen und liest:

"So wisset denn, meine lieben Freunde, wisset, dass nur Irrtum, Täuschung, Illusion und Trug alles ist, was in der Welt ausgesprengt wird und was praktiziert wird als Kult und Anbetung von Göttern; alle Gesetze und Vorschriften, welche ausgegeben werden im Namen und als Gebot von Gott oder von Göttern, sind in Wahrheit nur menschliche Erdichtungen, welche erfunden wurden von schlauen und durchtriebenen Politikern, dann ausgeformt und vermehrt durch heuchlerische Verführer, danach blindlings hingenommen von Unwissenden und schließlich beibehalten und befugt durch die Gesetze der Fürsten und der Grossen dieser Erde, welche sich diese Arten von menschlichen Erdichtungen bedienet haben, um mit solcher Hilfe das gemeine Volk leichter im Zaume zu halten und mit ihm zu machen, was sie wollen. . ."

Der Mann steht auf, geht zur Tür, lauscht hinaus. Nein, seine armen Bauern liegen längst im Schlaf. Auch er wird nun schlafen gehen. Er entledigt sich seiner Sutane. Ja: seiner Sutane. Er ist Priester. Er ist der katholische Pfarrer, der Cure des armseligen Dorfs Etrépigny. Der Ort liegt zwischen der Champagne und den Ardennen, nahe den Österreichischen Niederlanden, ständig der Soldateska überliefert und den Marodeuren ausgesetzt.

Der Pfarrer heißt Jean Meslier.

Meine Freunde, ich habe es an diesem Abend nicht nötig, meine eigene Meinung auszubreiten. Ich brauche nur das zu zitieren, was zuweilen in französischen Oberklassen behandelt wird und in manchen Schulbüchern steht. Das genügt.

Ich werde also der Lust zu zitieren die Zügel schießen lassen, ohne Vorwarnung und ohne ermüdende Quellenangabe, wenn schon der Kontext darauf hinweist.

Freilich, ein Vortrag ist immer summarisch, zu wenig nuanciert, und dafür bitte ich um Nachsicht. Ich bitte Sie auch, bei den Zitaten nie zu vergessen, dass es sich um Beurteilungen und Verurteilungen aus der Sicht des französischen 17. und 18. Jahrhunderts handelt.

Unserer freien Denkart entspricht es, die Vorgänge in der Beziehung zu ihrer historischen Zeit zu sehen und im übrigen  das zu achten, was einer aufrechten Überzeugung entspringt. Da wir uns keinem Dogma verschrieben haben, fällt es uns leichter, tolerant zu sein.

Kehren wir zum Pfarrer Jean Meslier zurück. Er kommt ein paar Meilen weit von seiner späteren Pfarre zur Welt, im Jahr 1664, als man auf dem Pariser Rathausplatz den satirischen Dichter Claude Le Petit verbrennt, weil er einige allzu lockere Verse verbrochen hat.

Meslier ist ein Jahr alt, da antwortet einer auf die Frage, woran er denn glaube:

"Ich glaube, 2 und 2 sind 4 und 4 und 4 sind 8."

Wer diese Antwort in den Mund seines Don Juan legt, der den Devoten als "verkörperter Teufel" gilt, weil er gegen die "scheinheiligen Falschmünzer der Frömmigkeit" wettert und für sie das Etikett "Tartüff" hinterlässt.

Meslier ist drei Jahre alt, da lässt ein gewisser La Fontaine einen Band Verserzählungen vorsichtshalber in Köln und ein Jahr danach in Amsterdam drucken, weil die Pariser Bigotten ihm nicht verzeihen, dass er den Klerus kritisiert und über lüsterne Nonnen und Mönche spöttelt.

Meslier zählt acht Jahre beim Tod von La Mothe Le Vayer, der ihm die Devise schenkt: "Der sichersten Dinge sicherstes ist der Zweifel."

Meslier ist 13 Jahre alt, als das freiere Holland jenen Spinoza begräbt, der da statuierte, ausser der unendlichen und ewigen Weltsubstanz gebe es kein Sein und keinen Gott: deus sive natura, die Natur selbst ist Gott.

Meslier ist 16 Jahre alt, da stirbt im freien England der Graf Rochester, der erklärte, in einem Land von Atheisten würde man die Liebe als Gottheit verehren.

Der einundzwanzigjährige Meslier erlebt die Widerrufung des Edikts von Nantes. Den Protestanten war 1598 durch dieses Edikt die Glaubensfreiheit versprochen worden.

Über Frankreich herrscht unumschränkt "das mehr mongolische als abendländische Ungetüm, welches Ludwig XIV. heisst" (Jacob Burckhardt). Er, der "Sonnenkönig", und sein Versailler Hof vergeuden grossartig und gewissenlos das Vermögen der Nation. Das Elend des Landvolks ist so drückend geworden, dass man für eine eklatante Ablenkung sorgen muss. Wie sonst Juden und Neger, so werden jetzt die Protestanten als Sündenböcke ausersehen. Das papierene königliche Edikt wird 1685 zerrissen. Eine magere Gewissensfreiheit und eine fragwürdige Toleranz werden für mehlig erklärt.

Gewissensfreiheit und Toleranz werden bis auf den heutigen Tag von manchen Prälaten der Kurie als "Unsinn" verworfen.

Der Historiker Michelet ironisiert: "Die Jesuiten waren die Herren am Hof von Versailles, aber bei ihrem Gott hatten sie nicht den mindesten Kredit."

Einst hatte die Bartholomäusnacht, die Pariser Bluthochzeit von 1572, mehreren Zehntausenden von protestantischen  Christen das Leben gekostet. Diesmal sind es mehr als Hunderttausend.

Mit dem Ruf "Tot oder Katholisch!" wird gefoltert, geraubt, vergewaltigt, totgeschlagen nach Herzenslust, Madame de Sevigne klatscht Beifall, und der berühmte Hofprediger Bossuet jubelt: "Gott hat dieses Wunder vollbracht!"

Meslier ist 38 Jahre alt, da ist die christliche Niedermetzelung der reformierten Camisarden in den Cevennen und der christlich-asketischen Waldenser in vollem Gang, unter der Regierung des kostspieligen Ludwigs, den man den Grossen zu nennen beliebt. Leibnitz verspottet ihn als Mars christianissimus, als den allerchristlichsten Kriegsgott, und Meslier meint: "Ja, er ist ein grosser König, gross durch seine Verbrechen."

Krieg und Scheinfrieden, sommerliche Dürre und schreckliche Winter, verlorene Ernten, Schikanen der Grundherren und der Steuereintreiber - 45 Jahre lang teilt Meslier das Leben seiner Bauern. Die meisten sind des Lesens und Schreibens unkundig. Sie sind bettelarm. Sie sind gläubig aus verzweifelter Hoffnung.

Meslier ist ihr Auge, ihr Ohr, ihre Zunge. Er nennt sie seine "lieben Freunde". Er tauft sie, segnet ihre Ehen, bringt sie zu Grab, ist hilfsbereit und gewissenhaft. Die Bauern sind mit ihm zufriedener als seine Oberhirten. Der Erzbischof von Reims verurteilt ihn als "unwissend, anmassend, eigensinnig und halsstarrig", er behalte "trotz wiederholtem Verbot eine junge 18jährige Bedienerin bei sich, und ausserdem kam es vor, dass er sich von der Kanzel herab gegen den Grundherren der Gegend ausliess", überdies "vernachlässigt er seine Kirche, gibt sich jedoch devot" und so weiter, kurz: Meslier ist kein Heiliger. Er ist ein nachdenklicher Mensch. Er selbst gesteht insgeheim und aufrichtig, er übe sein Priesteramt "oft genug mit Widerwillen" aus.

So sitzt er denn des Nachts in seiner Stube und notiert die Gedanken, die der alltägliche Widerspruch ihm eingibt. Beim Schein der Kerze wirft er ungestüm die Überlegungen aufs Papier. Er schlägt die stilistische Schönheit in den Wind. Er ist auf logische Entwicklung bedacht.

Meslier stösst mit seinem Memorandum in drei Richtungen vor.

Der exegetische 1. Teil ist der heftige Angriff aufs christliche Bekenntnis. Meslier prüft Urform und Übersetzung eines jeden Satzes der Bibel. Das ist eigentlich ein löbliches Unternehmen, für das man jedoch andere vor ihm und nach ihm als "Ketzer" verteufelt. Meslier notiert die zahlreichen Widersprüche und lehnt jede parteiische Auslegung und jede symbolische Ausdeutung ab.

Mit dem  sozialen Mittelteil seines Memorandum werden wir uns noch beschäftigen.

Im   philosophischen  3.  Teil   erledigt Meslier die Schöpfungslehre und die Idee eines unkenntlichen kontradiktorischen "höchsten Wesens". Er sieht im Gottesbegriff noch nicht einmal - wie später Nietzsche und Sartre - ein projiziertes Idealbild der menschlichen Selbstverwirklichung. Nein, er verwirft kurzweg jede Religion und mit ihr jeden Gott. Da er überzeugt ist, dass kein Gott existiert, greift er nicht einen Gott, sondern seine Nutzniesser an. Er zerpflückt die Gottesidee und widerlegt sie durch die Vorstellung der Materie als unendliche Ausdehnung in Raum und Zeit.

Das ist nicht neu. Ein gewisser Straton. der im Jahr 270 vor unsrer Zeitrechnung starb, hatte erklärt, das Göttliche sei die Natur, eine Natur ohne Bewusstsein und ohne Zweck und Ziel. Für Straton wurde die Welt nicht von Göttern erschaffen, die in Wahrheit nichts anderes sind als personifizierte Naturerscheinungen.

Es liegt wieder einmal in der Luft, wenn Meslier feststellt: "Gott und die Materie sind ein und dieselbe Sache. . . Die Natur braucht, um sich zu bewegen, keinen göttlichen Nasenstüber. . . Die angebliche Einmischung eines Gottes wäre unnütz und grundsätzlich unverständlich. . ."

So füllt Meslier Blatt um Blatt, und mit ihrer Häufung entsteht das Gedankengebäude eines atheistischen Materialismus. Meslier verwendet nicht das Wort "Materialismus", das sich erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzt.

Mit acht Beweisen der Nichtexistenz eines Gottes entkräftet er logisch, aufrichtig und gewissenhaft die acht herkömmlichen Gottesbeweise. Später kommen kluge Leute und schreiben den Gegenbeweisen eine "erschreckende Logik" zu.

Anderseits fehlt es gewiss nicht an fanatischen Gegnern, um diesen Teufelsbraten Meslier in Zeit und Ewigkeit zu verdammen.

"Welch abscheuliche Doppelzüngigkeit: Pfarrer und Atheist! Welche psychische Ungeheuerlichkeit!"

Was diese eifernden und geifernden Gegner vergessen, vielleicht absichtlich vergessen, ist ein historisches Faktum, das der gottlose Gottesmann eben nicht vergisst: das Frankreich jener Tage kennt nicht die Freiheit der Rede und der Schrift.

Meslier verdankt seiner geistlichen Schulung die Zuflucht der "doppelten Wahrheit". Ein gewisser Pomponazzi (1462-1524) leugnete standhaft überirdische Geister, übernatürliches Geschehen, die Moral von Lohn und Strafe im Jenseits. Zu seinem geistigen und leiblichen Wohlergehen formulierte er die längst stillschweigend geübte "doppelte Wahrheit", die da besagt, dass etwas wissenschaftlich und sozial durchaus richtig, theologisch jedoch grundfalsch sein kann, und umgekehrt.

Überdies ist Mesliers Amtswalten nicht nur und bei weitem nicht nur ein geistliches. Er ist der Gemeindesekretär, führt die Register, berichtet den Ämtern. Er ist der öffentliche Schreiber und der Ratgeber. Tag für Tag weiss er um die Nöte seiner Bauern und um ihre Hoffnung. Sie vertrauen ihm, und so bleibt er bei ihnen. Er steht ihnen bei. Er macht sich daran, in ihrem Bewusstsein langsam den Gedanken zu erwecken, dass die Welt zu ändern bei ihnen selber liegt.

Wer möchte mich eines besseren belehren, wenn ich meine, bislang sei es kaum den diversen Kirchen der Welt gutzuschreiben, dass es heutzutage in etlichen Ländern eine grössere Anzahl von mehr oder weniger gesicherten Freiheiten gibt. Dies verdanken wir ohne jeden Zweifel den freien Geistern, den Rebellen wider die Mehrheitsnorm, den unabhängigen Denkern, die sich um die lebenden Menschen sorgten und durch die Jahrhunderte mutig für Vermehrung der Freiheiten lebten und kämpften oder starben.

Die Engländer machten eineinhalb Jahrhunderte vor den Franzosen ihre Revolution und köpften ihren König. Die Kirche "legitimiert" den Tyrannenmord, den sie befürwortet. Für Meslier ist das Elend der Völker die ausreichende Rechtfertigung.

Meslier rühmt die Beseitigung der absoluten Herrscher als "hochherzige Tat". Tyrannenmörder sind ihm "die großmütigen Verteidiger der allgemeinen Freiheit."

Er ruft aus: "Wo sind Brutus und Cassius? (. . .) Warum leben sie nicht mehr in unseren Tagen, um die abscheulichen Ungeheuer und Feinde des Menschengeschlechts totzuschlagen?"

Englands Bill of Rights verspricht unter anderem die Gedankenfreiheit, anno 1689, als dem damals fünfundzwanzigjährigen Meslier die freie Meinungsäusserung verwehrt bleibt.

Meslier empfindet keinerlei Ergötzung bei dem Gedanken, zu Gottes Ehre auf einem Scheiterhaufen geröstet zu werden. Er glaubt nicht an Gott. Er glaubt an Epikur.

Schon in der Antike gab es nachdenkliche Leute, die da sagten: "Das Bedürfnis, an Götter zu glauben, ist kein Beweis für deren Existenz."

Etwa 2100 Jahre vor Meslier lebte und lehrte in Abdera der "lachende Philosoph" Demokritos (460-371), der verkündete: Es existiert nichts als die Atome, die sich verbinden und sich trennen, und der leere Raum, auch die Menschenseele besteht aus feinsten, leichtesten, glatten und rundlichen Atomen, alle anderen Ansichten sind bloße Erdichtung, die Welten entstehen und vergehen rein mechanisch und brauchen dazu keinen Gott.

Schon damals hat man denkende Menschen, von Anaxagoras bis Aristoteles, des Unglaubens bezichtigt. Man ist danach nicht versöhnlicher geworden und bis heute noch nicht so recht zur Klugheit der Toleranz gelangt.

Von Protagoras, einem älteren Landsmann des Demokritos, stammt der Homomensurasatz: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind."

Protagoras (480-410) ist ehrlich genug zu sagen, er wisse nichts von Göttern und könne weder behaupten, dass es welche gebe, noch versichern, dass es keine gebe. Er stirbt auf der Flucht aus Athen, wo eine tyrannische Regierung ihn wegen Asebeia, wegen Gottlosigkeit, verurteilt hat.

Elf Jahre später muss dort Sokrates (469-399) den Schierlingsbecher leeren. Auch er hat nicht an die gesetzlich geschützte Staatsgöttermoral geglaubt.

Für Sokrates entspringt rechte Sittlichkeit aus begrifflicher Klarheit und aus Selbsterkenntnis. In sich selber findet ein jeder jenes "göttliche Daimonion", das ihm rät, was zu tun und was zu meiden sei, so wie 1300 Jahre später Kants "moralisches Gesetz in mir".

Ein halbes Jahrhundert nach des Sokrates Tod beginnt ein weiterer lachender Philosoph seine kleine Unsterblichkeit: Epikur (342-271).

Er übernimmt den gottlosen Atomismus des Demokritos und entwickelt ihn zu einer Sittenlehre der praktischen Lebensführung. Die Götter? Falls es sie überhaupt geben sollte, so leben sie "irgendwo in den Intermundien" und kümmern sich weder um die Welt noch um die Menschen.

Epikur sagt uns: Die Erkenntnis der Natur befreit den Menschen vom Aberglauben der Religionen. Das Wissen um den Gang der Natur schenkt uns die geistige Freiheit und das höchste Gut: die Lust, jene köstliche geistige Lust, die in der Befreiung von Unwissen, Unruhe und Furcht besteht.

Epikur lehnt alle Religionen ab, sie erscheinen ihm als Maske, Beschönigung, Heuchelei und Hochmut, lauter verwerfliche Dinge, die seine Sittenlehre denn auch unerbittlich verwirft.

Vielleicht wurde nie ein Denker so missverstanden und wohl auch willentlich missverstanden wie Epikur. Er fordert strenge Sittlichkeit, doch lächelnd, ohne Religion und mit dem Ziel der Daseinsfreude, der irdischen Glückseligkeit.

Nicht wenige sahen und sehen über die strengen ethischen Gebote Epikurs geflissentlich hinweg und finden im verlockenden Flötenton des Wortes "Glück" die Ausrede für einen lockeren Lebenswandel.

Das Leben sorglos gemessen, den Sinnen vertrauen, der Natur gehorchen, sich der Libido überlassen -läuft es nicht Gefahr, das Mass zu verlieren und zu einer Art fröhlichen Religion zu werden, mit der Libido als einem "umgestülpten Gott"? Oder ist der ungebundene Genuss des Daseins, das heitere Glück zu leben, die Hippie Sehnsucht, nichts weniger als ein anderer Heimweg zum verlorenen Paradies?

Die irdische Glücksverheissung ist ein Cantabile, das durch alle Zeiten klingt.

Die Religionen hängen diesen lockenden Köder vorsichtshalber in einem ungenauen Jenseits auf. Gewisse dogmenstrenge politische Kirchen verlegen die Lockung in eine zwar diesseitige, doch ebenso unbestimmte Zukunft. Der Erzengel der Französischen Revolution, Saint-Just, formuliert den modernen Anspruch auf Erdenglück als einen rechtlichen Anspruch. Er und die seinen verachten das bukolische Glücksgefühl. Sie verwandeln die Glücksverheissung in einen Ansporn zur Aktion, in einem Begriff des revolutionären Ethos.

Der Pfarrer Jean Meslier geht ihnen darin voraus.

Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, also zu Mesliers Lebzeiten, ist die diesseitige Glücksverheissung: die Hoffnung der elenden Arbeitstiere und die Ausrede für die dolce vita der reichen Arbeitslosen.

Einige wenige hohe Herren können es sich erlauben, einen epikurischen Atheismus im Knopfloch zu tragen. Im allgemeinen ist die herrschende Klasse lippen-frömmlich maskiert, besteht jedoch darauf, dass "Frauen, Kinder und Arme durch den Glauben diszipliniert und gefügig" werden.

Noch 1908 spricht ein gewisser urchristlicher, Staat und Kirche verwerfender Tolstoj ärgerlich von der. "infamen Lüge einer Religion, an die wir selber nicht glauben, aber die wir den anderen aufzwingen."

Wir könnten auch den Kirchenvater Tertullian aufrufen, der bereits vor rund 1800 Jahren ausdrücklich und taktisch erklärte, einen Menschen zur Religion zwingen, sei unreligiös. In diesem Zusammenhang gesehen, wird beispielsweise das anbefohlene Schulgebet zur Einrichtung gegen die religiöse Vorbildlichkeit und gegen die freie Entscheidung, wie sie die Erklärung der Menschenrechte neben etlichen Staatsverfassungen vorsieht. Dies nur nebenbei.

Was Meslier betrifft, so weiss er nur vom ungeschriebenen Gesetz, das der herrschenden Klasse alle Türen öffnet, aber dem niederen Volk nur die Kirchentür.

Meslier ist ein Sohn des 17. Jahrhunderts, in dem die allerchristlichste heilige Kirche es fertig bringt, schätzungsweise l Million Hexer und Ketzer zu verdächtigen und zu verdammen. In der Vorliebe für derlei Praktiken wetteifern im übrigen die protestantischen Autoritäten mit den katholischen Mächten.

Meslier war 5 Jahre alt, da wurde das abscheuliche Machwerk "Malleus maleficarum", der "Hexenhammer", zum achtundzwanzigsten Mal aufgelegt, ein religiöser Bestseller. Es ist erst 300 Jahre her. . .

Machen wir uns selbst der Hexerei und der Ketzerei verdächtig, wenn wir wie einige Tollkühne der vergangenen Jahrhunderte behaupten, man habe Millionen Unschuldige verdammt? Die Liebhaber der Scheiterhaufen berufen sich auf einen theologischen Doktor namens Spina. Er hatte ein für allemal statuiert: "Was? Unschuldige? Die gibt es nicht. Auf alle Fälle hat Gott sie für die Erbsünde bestraft!"

Meslier und seinesgleichen haben offensichtlich recht, wenn sie erklären, der Fanatismus mache abergläubisch, böse und dumm. Dem Pfarrer Meslier erscheint es jedenfalls selbstverständlich, dass die widernatürliche Erbsündenidee nur ein frisierter Urglaube an Dämonen sein kann, dazu dienlich, die gläubigen Schäflein in gehorsamer Furcht zu erhalten.

Sieben Jahrhunderte widerhallen von den Schreien der Gefolterten und der Brennenden. Nach den beschwerlichen Kreuzzügen ist die Einziehung des Vermögens von Hexern und Ketzern nun eine bequemere Art, den Kirchensäckel aufzufüllen.

Um Hexer zu verdammen, muss man selber an Hexerei glauben. Ein solcher Glaube ist urzeitlicher Dämonenglaube. Die gewünschten "Geständnisse" erpresst man durch die Folter. Wer foltert, kann nur ein Unmensch oder ein sexuell Pervertierter sein. Auf einen Hexer kommen 40 bis 100 Hexen. Um als Hexe verdammt zu werden, braucht zuweilen ein junges Mädchen nur schön zu sein, so wie wir heute noch sagen: "Sie ist verdammt schön! "Zu Mesliers Zeiten reitet man noch eifrig auf Besen zum  Hexensabbat und  treibt  Unzucht mit Satan in persona.   Eine  widernatürliche   Religion   treibt   sozial und sexuell frustrierte Menschen zur Flucht in die Illusion der Magie.

Pervertierung ordnet die Foltern an. Dämonen glaube entzündet die Scheiterhaufen. Den Beifall spendet eine religiöse Kollektivhysterie, die man schürt, um sich ihrer politisch zu bedienen.

Die Martern in den Konzentrationslagern und die Gaskammern unseres Jahrhunderts sind das bestialische Dacapo alter religiöser Verirrung, eine satanische Tradition.

2000 Jahre vor Goethe und Kant bezeichneten die Hellenen die "innere Stimme", den Geist, der auf den rechten Weg deutet, das "moralische Gesetz in uns", mit dem Wort "Daimonion". Die Kirche setzt das Daimonion den heidnischen Dämonen gleich und verurteilte mitsamt der inneren Stimme auch den kritischen Geist. Das Wort    griechischer   Herkunft   für   Ketzerei, nämlich "Häresie", bedeutet "auserwählte Denkart".

"Man hat diejenigen, die auserwählte Meinungen hatten, gehasst, verfolgt und totgeschlagen, und das macht der menschlichen Vernunft nicht gerade Ehre", so meint, ein paar Jahre nach dem Pfarrer Meslier, ein gewisser Voltaire.

Meslier beugt sich immer wieder über den dunklen Abgrund der Menschheitsgeschichte, um nach Lichtern zu spähen.

Vielleicht denkt er an den Priester Amaury de Bène, der schon vor dem Jahr 1200 die Auferstehung und das Jüngste Gericht als Märchen erklärt und Gott mit der Urmaterie des stofflichen und des geistigen Kosmos identifiziert.

"Das unendliche All ist Gott, alles ist beseelt und ständig sich wandelnd, man verehrt das Göttliche, indem man die universalen Gesetze erforscht, denn jede Erkenntnis eines Naturgesetzes ist eine sittliche Tat." So verkündet, schon modernen Geistes, Giordano Bruno (1548-1600). Er wird dafür verbrannt, 63 Jahre vor Mesliers Geburt.

"Die Materie ist ewig. . . Gotteskraft und Naturgesetz sind identisch. . ." Mit diesen Worten redet der Priester Vanini (1584-1619) sich auf den Scheiterhaufen, 45 Jahre vor Mesliers Erdenwallen.

25 Jahre vor Meslier stirbt Campanella (1568-1639), der 27 Jahre in Gefängnissen verbrachte, weil auch er den gefährlichen Satz aussprach: "Wissen ist Macht" und weil er von einem christlich-kommunistischen Idealstaat träumte.       

Nie hören die Einsichtigen auf, ihre Gedanken zu Ende zu denken und zu mahnen, zu rufen, zu ermutigen.

Ich habe drei verfolgte Denker genannt. Ich könnte diesen drei Beispielen einige Hunderte, vielleicht Tausende anfügen. Die aufrechten Denker der Vergangenheit ehren heute das geistige Erbe. Als sie lebten, galten sie den Wohlmeinenden als horrible Störer der herkömmlichen Ordnung, der geistigen Trägheit, der seelischen Bequemlichkeit.

Noch zu Mesliers Lebzeiten braucht sogar ein denkender Christ wie Richard Simon (1638-1712) nur eine "gewissenhafte und vernünftige Bibelübersetzung" zu fordern, um bereits als "Ketzer", ja als "Atheist" verschrien zu werden.

Was bedeutet in jenen Zeiten das ominöse Wort "Atheist"?

Ein gewisser Buchdrucker Etienne Dolet (1509-1546), der als "Atheist verbrannt wurde, hatte den Humanisten Erasmus von Rotterdam als "Atheisten" beschimpft, als dieser "Voltaire des 16.Jahrhunderts" (Dilthey) massvoll für religiöse Toleranz eintrat.

Der  geniale Satiriker Rabelais mokiert sich über den Humanisten Scaliger: "Bah, der ist Atheist!" Und Scaliger entgegnet wütend: "Nicht so sehr wie Sie, Rabelais!"

Die Urchristen wurden von den Römern als "Atheisten" den rechtgläubigen Löwen vorgeworfen.

Thomas von Aquino (1225-1274), Schöpfer der heute vorherrschenden katholischen Doktrin und als Doctor angelicus heilig gesprochen, galt zunächst einmal als "Atheist".

Ein Doktor Martin Luther (1483-1546) rät dem religiösen Menschen, selbstverantwortlich seiner "inneren Stimme" zu folgen. Selbstverständlich eifern die Gegner. Luther sei "bis zum perfekten Atheismus vorgestossen." So wettert ein Jesuitenpater, der seinerseits im Geruch der atheistischen Unheiligkeit steht.

Man ist damals immer der "Atheist" von irgend jemand, der sich selber vor dem Verdacht und vielleicht vor dem Scheiterhaufen retten will, indem er andere des "Atheismus" bezichtigt.

Die Denunziation wird nebst Folter und Flammentod zur sakralen Institution.

In den zwanziger Jahren sagte ich in einer Gesellschaft, mehr als die Hälfte der Menschheit esse sich nicht satt, und schon fand sich jemand, der mit hochnäsigem Stirnrunzeln fragte: "Ach, Sie sind wohl Kommunist?"

Ein jüngerer Zeitgenosse des Pfarrers Meslier, der berühmte Rechtsphilosoph Montesquieu erklärt, man brauche nur zu sagen, dass es einer erneuerten sozialen und universalen Schau bedürfe, und schon bekomme man von allen Seiten her ins Gesicht gesagt: " Ach, "Sie sind also Atheist!"

Selbstlos nachdenken, sozial und human empfinden, wird offenbar nicht stets als gesellschaftsfähig erachtet.

"Ich bin ein Gläubiger der Ungläubigkeit", so wagt nicht jedermann zu sagen, wie es der Humanist, Arzt und Pfarrer Rabelais (1494-1553) tat, der enorme Spötter, der Gedankenalchimist dessen, was heute als "Anti-Kultur" gilt. 150 Jahre vor Meslier verweigert er jede Autorität: "Nicht nach Satzung leben, sondern nach eigener freier Wahl!"

Den Montaigne (1532-1592) kennt Meslier fast so gut wie die Bibel. Für Montaigne sind die Religionen nur "kulturhistorische Tatsachen, gebunden an ethnische und klimatische Besonderheiten." In seinen "Essays" predigt er Toleranz, er achtet die echte Religiosität bei anderen, ist sich aber darüber im klaren, dass er selbst nicht kirchengläubig sein kann, "Glauben ist ein Anzeichen von menschlicher Unsicherheit und Unzulänglichkeit", erklärt er freimütig, obgleich er im sonsten seine skeptische Zunge wohlweislich im Zaume hält.

Mesliers Zeitgenosse Fontenelle (1657-1757) spöttelt : "Die Furcht vor dem Reisig ist erfrischend", das heisst: sich so ausdrücken, dass man gerade noch um den   Scheiterhaufen   herumkommt,   das   macht   erfinderisch und ist anregend für das Denken.

Mit einiger Umsicht und mit guten geistlichen Beziehungen konnte man damals freidenkender Christ sein wie der große Pierre Gassendi (1592-1637). Nach dem Deutschen Daniel Sennert (1572-1637) erneuert er zu fröhlicher Wissenschaft den Atomismus des Demokritos und den Eudämonismus des Epikur. Ein halbes Jahrtausend vor ihm hat der Theologe Abälard Glauben und Wissen zu vermählen versucht. Er schürte den Pariser Studentenaufruhr von 1104 und liebte die schöne Heloise. Er stellt die kühle Ratio über die Offenbarung und die Gesinnung über die guten Werke. Nun macht Gassendi sich als "Libertin", als Freidenker, daran, "das katholische Gewissen mit dem heidnischen Wissen" zu verheiraten. Ob in dieser Ehe viel Geschirr in Scherben geht, wir wissen's nicht, Gassendi bewahrt seine undurchsichtige epikurische Heiterkeit. Dahinter verbirgt er vermutlich eine Weltschau, die sich den Atomismus als "besten Schutz gegen den Irrationalismus der Kirche" erwählt.

Ein anderer großer Wegbereiter der Vernunft ist Rene Descartes, genannt Kartesius (1596-1650). Er gesteht: "Larvatus prodeo - unter einer Maske schreite ich dahin." Er zog es im übrigen vor, nach dem freieren Holland auszuweichen. 1663, ein Jahr vor Mesliers Geburt, wird Descartes' "Discours de la Methode" auf den Index gesetzt.

Meslier befolgt getreu den Lehrsatz des Descartes: "Niemals irgendeine Sache für wahr halten, solange man sie nicht tatsächlich als wahr erkannt hat." Meslier ist Kartesianer ohne Gott, ein extremer Linker des Kartesianismus.

Sicherlich liest Meslier heimlich eine Reihe von Schriften, die man in Frankreich verbietet und verbrennt und die das freiere Holland druckt. Meslier bleibt bei seinen Bauern, um ihnen beizustehen in ihrer

Misere, aber in der kritischen Auflehnung bleibt Meslier nicht allein.

Man hat das Gefühl, dass eine Wandlung, die in langer Zeit heranreifte, demnächst vor aller Augen sich offenbaren wird wie nach einem nicht enden wollenden Winter ein erster Frühlingstag.

Mit   einmal   klagen   die   geistlichen   Autoritäten über   "aufsässige  Priester",  über  "obstinate ungehorsame" Vikare.

Der kirchliche, staatliche, juristische Druck ist zu unerbittlich, als dass es nicht ein gewagtes Abenteuer wäre, die Sutane ins Gebüsch zu werfen. Einige Aufrechte fordern dennoch Gott und den Teufel heraus, irren von Ort zu Ort, hungern, darben, verkommen in Gefängnissen oder retten sich in die holländische Freiheit.

Anders sprechen als man denkt oder aus Vorsicht, aus Furcht verschweigen, was man sich innerlich zuflüstert, das führt unweigerlich zu einer Spaltung des Gemüts und des Bewusstseins. 'Staaten und Kirchen sorgten seit alters und sorgen weiterhin für willfährige Untertanen durch Lockung und Drohung und durch eine Seelenstrukturierung zwischen Passivität und Schizophrenie.

Neid, Hass und Angst verdammen die kritische Vernunft. Also übt man sich im Versteckspiel. Man erfindet geistreiche Paradoxe wie das von La Bruyere: "Unter einem atheistischen König ein Atheist sein, heisst ein Frömmler sein."

Oder man fragt mit Unschuldsmiene: "Wenn wir im Matriarchat leben würden, wäre dann Gottvater nicht eine Frau Gouvernante?"

Man stellt sich, als grüble man mit religiöser Andacht: "Über die Amerikaner steht kein Wort in der Bibel. Ja, stammen die denn nicht von Adam und Eva ab? Sind die denn keine armen Erbsünder?"

Beim Tee plappert man mit geheuchelter Überlegenheit: "Stellen Sie sich vor, meine Beste, der siamesische König hat sich nicht bekehren lassen. Immerhin, er hat mit liebenswürdiger Toleranz unsere katholischen Missionare bei sich aufgenommen." Und nach einer Pause, flüsternd: "Hätte unsere heilige katholische Kirche mit gleicher Toleranz siamesische Missionare empfangen?"

Toleranz! Dieses seit Jahrhunderten geflüsterte Wort ist jetzt, zu Mesliers Zeiten, auf vielen Lippen. Der Begriff "Toleranz" verliert seinen aussuchen Beigeschmack von nachsichtiger Herablassung. Das Wort "Toleranz" wird zum Erkennungswort, zum Schibboleth, zum Kampfruf.

Der Begriff "Toleranz" hat einen unverwechselbaren einzigen Sinn. Der Begriff "Atheist" hingegen ist auf verschiedenen Zungen eine sehr variable Verwünschung oder ein überaus unterschiedliches Lob.

Der Atheismus ist seit alters pluralistisch. Er muss es sein, wenn er nicht selber zu einer uniformierenden Kirche werden will. Der Gläubige steckt seelisch stets in irgendeiner Uniform. Der freie Denker ist der zivile Mensch.

Zur Zeit des Pfarrers Meslier klären sich die Begriffe. Bisher konnte man sich mehr oder weniger offen gestatten, freireligiös zu sein, das heisst an einen Weltenschöpfer, an einen universalen Prinzipal zu glauben, doch jede klerikale Autorität und Gängelei abzulehnen.

Zum Begriff der Kirchenfreiheit gesellt sich nun im französischen 17. Jahrhundert die Bezeichnung "Libertin". Das Wort "Libertin" bedeutet für ernsthafte Leute soviel wie freier Geist, für Frömmler soviel wie gottloser Wüstling.

1713 erfindet der Engländer Anthony Collins den Begriff des "Freidenkers". Wie der Freireligiöse kann der Freidenker kirchenfeindlich, doch auf seine Weise religiös sein. Noch als Deist kann er mit Voltaire sagen: "Der liebe Gott und ich, wir grüssen uns von weitem, aber wir sprechen uns nicht."

Freidenker ist man stets im Verhältnis zu seiner Zeit, zu ihrer Gesellschaftsstruktur, ihrer Denkart, ihren Tabus.

Der Engländer Tolant, rasender Kirchenfeind, hat für den Freidenker 1720 den Begriff "Pantheist" geprägt. Schopenhauer wird später sagen: "Pantheismus ist die vornehme Form des Atheismus."

Der berauschende Übergang hebt an: vom realen Zwang zur utopischen Anti-Autorität, vom Gott der Offenbarung zur Göttin der Vernunft, vom göttlichen Recht zum Naturrecht, von der hingenommenen Klassengesellschaft zum aufsässigen Traum von Gleichheit und Gerechtigkeit.

 

Die Renaissance begann die Loslösung. Mit der Wende zum 18. Jahrhundert beginnt die Befreiung. Das Individuum entringt der kirchlichen Tyrannei. Es unterwirft sich noch nicht dem Despotismus einer politischen Dogmatik. Man kann nicht ein Dogma bekämpfen und ein anderes verteidigen. Der freie Geist ist auch von Dogmen frei.

Gewiss, in Vergangenheit und Gegenwart begegnet man Gläubigen, die Grosses geleistet haben und in ihrer Aktion für soziale Gerechtigkeit, für Frieden und Fraternität. Sie vollbrachten und vollbringen es nicht als Christen, als Juden, als Mohammedaner, sondern als nachdenkliche und hochherzige Menschen.

Die Kirchen haben die Künste zugleich gefördert und in Schranken gehalten. Sie haben die Baumeister geschätzt, den Musikern vertraut und den Schriftstellern misstraut. Unter ihrer Ägide entstanden, wenn auch zuweilen mit Zähneknirschen, eine Anzahl großartiger Werke.

Jetzt, um die Jahrhundertwende, beginnt die neue Epoche: es entstehen die großartigen Werke des freien Geistes. Es beginnt das Jahrhundert der Aufklärung, der Vernunft, le Siecle des Lumieres. Der Morgen bricht an.

Da sind zunächst die älteren großen Zeitgenossen, die mit Meslier einziehen ins 18. Jahrhundert.

Der    Schriftsteller   Saint-Evremont    (1618-1703) "richtet sich mit ebensoviel Seelenruhe im Unglauben ein wie andere im Glauben" (Paul Hazard).

Da ist vor allem Pierre Bayle (1647-1706), der alles angreift, was nach Dogmatik schmeckt. Ihm ist die "Wollust des Studierens wie guter italienischer Wein: dolce picante."

Als   "Lehrmeister  des  Unglaubens"  vollbringt er sein   Leben und sein Denken  nach  dem   Leitspruch: "Gegen das Vorurteil der Überlieferung!"

Zunächst tritt er verbindlich plaudernd aus den Kulissen: "Dass eine Meinung nur deshalb, weil sie sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeschleppt hat, nun eine Wahrheit sei, das ist ganz einfach eine Täuschung."

Dann aber tritt er mit einem kühnen Anwurf an die Rampe der Zeitenwende: "Man hat aus der Religion, einen Haufen von Überspanntheiten, Albernheiten und ungeheuerlichen Verbrechen gemacht, den lächerlichsten Götzendienst."

Ein andermal beginnt er mit der hingeworfenen Bemerkung, Atheisten seien nicht übler als Götzendiener. Dann strafft er die Zügel und gibt zu verstehen, dass Atheisten nicht schlimmer seien als Christen. Und dann legt er unbekümmert los: "Eine unabhängige Sittlichkeit hat weit höheren Wert als eine religiöse Moral. . . Ein atheistischer Staat wäre einem christlichen Gemeinwesen nicht nur ebenbürtig, sondern sittlich überlegen."

Er erklärt, durch die Protestantenverfolgungen habe die Kirche sich ein für allemal "ruchlos und ehrlos" gemacht. Er wütet: "Den Seelen das Gesetz des Stärkeren aufzwingen, ist ungeheuerlich. . . Ohne Toleranz wird die Welt zur Mördergrube, sobald jeder vorgibt, er allein besässe die Wahrheit."

"DIE" Wahrheit ist nie und nirgends nachweisbar. Sie trägt das schillernde Gewand der Illusionen. Sie kann glaubwürdig, wenn auch nicht glaubhaft sein.

Nie wird ein freier Denker behaupten, er verfüge über die alleinseligmachende oder alleinglückverheissende Wahrheit. Für den freien Geist gibt es eine unbegrenzte Anzahl von zu entdeckenden und dem Wandel folgenden Wahrheiten. Für den freien Geist besteht das, was man Wahrheit nennt, in der jeweiligen Übereinstimmung einer Erkenntnis mit einer unverborgenen Sache, einem offensichtlichen Sachverhalt.

Wahr ist, was nicht dogmatische Fessel ist und die Menschen nicht in Gläubige und in Nichtgläubige oder Andersgläubige trennt, sondern dem Zusammenleben der Menschen nützt und ihr Einvernehmen fördert. So denkt Jean Meslier, so denken die unabhängigen Geister des 18. Jahrhunderts. So haben die freien Geister von jeher gedacht.

Meslier ist 30 Jahre alt, da wird Voltaire (1694-1778) geboren, der einen massvollen "Traktat der Toleranz" verfassen wird.

Voltaire ist religiös und politisch konservativ. Der "liebe Gott" ist ihm der "Uhrmacher und Mechaniker des Universums" und gleichzeitig "der Polizist der öffentlichen Ordnung." Eine Störung der Ordnung fürchtet Voltaire als Störung seines bequemen Privatlebens.

Die Kirche aber hasst Voltaire wie die Pest. Sie ist die "Infame", die Niederträchtige, die Schändliche, die Intolerante und er signiert seine Briefe mit dem Satz: "Ecrasons l' Infâme! Vernichten wir die Infame!"

Er schreibt unverblümt: "Das Christentum gründet sich auf schändlichen Lügen, auf gefälschten Botschaften, auf Betrügereien. Die christliche Religion ist ein Netz, in dem seit 1700 Jahren die Dummen von den Schurken gefangen werden."

Man fragt Voltaire, was wohl gefährlicher sei, der religiöse Fanatismus oder der irreligiöse Atheismus. Er antwortet: "Zweifellos ist der religiöse Fanatismus tausendmal schlimmer, denn der Atheismus macht nicht blutgierig; der Atheist widersteht nicht dem Verbrechen, der Fanatiker aber stiftet sie an."

Voltaires Worte sind böse und hart. Sie würden ausserdem fanatisch und intolerant erscheinen, wenn man die Verfolgungen zu Voltaires Zeiten vergisst und wenn wir Voltaire der Dummheit zeihen könnten. Die denkenden Kirchengegner des 18. Jahrhunderts sind eminent kluge Köpfe. Sie sind die empfindlichen Antennen ihrer Zeit. Ihre kühle Ablehnung oder ihre zornige Auflehnung entspricht dem jähen Bewusstwerden einer vollzogenen Wandlung, sie entspricht dem Ausbruch aus dem Zwang, dem Abschütteln der Ketten.

Die unerbittliche Härte, mit der man Religionen und Kirchen anklagt und verwirft, wird verständlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, mit welch harter Unerbittlichkeit die damalige Kirche ihre moralische Macht und ihre weltliche Herrschaft verteidigt.

Voltaire verkündet: "Die Ungläubigkeit ist die Grundfeste der Weisheit." Er tritt für Justizopfer ei,. er schreibt eklatante Sätze gegen Folter und Scheiterhaufen: "Solange sie nicht aufhören, sich der Scheiterhaufen anstelle von Gründen zu bedienen, werden sie nur Heuchler und Schwachköpfe zu Anhängern haben."

Setzen wir statt "Scheiterhaufen" irgendein anderes moralisches oder materielles Repressionsmittel unsrer Tage, so wird noch immer gültig sein, was er uns über 250 Jahre hinweg zuruft: "O Gott, offenbare uns doch endlich, dass Menschlichkeit und Duldsamkeit unsere ersten Pflichten sind!"

Was würde er heute sagen, da Folterungen und politische Morde noch immer vollzogen, ja zuweilen gelobt und gelohnt werden und da man die Aufrechterhaltung unmenschlicher "Ordnungen" den Folterknechten, das heißt Bestien überlässt?

Vor kurzem hatte ich ein Foto in der Hand, aufgenommen in Santiago de Chile am Jahrestag der Ermordung Allendes und Tausender von wehrlosen Menschen. Auf dem Foto sieht man die Offiziere der Junta und hohe Geistliche. Die Offiziere und die Prälaten liegen sich in den Armen. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit macht sich bezahlt.

Wie gut die beiden sich vertragen, der Staat und die Kirche, das übersieht noch manch einer geflissentlich. Der Pfarrer Meslier übersieht es nicht.

Im allgemeinen Aufbruch der Geister bleibt Meslier bei seinen armen Bauern, ein Franziskus ohne Gott. Aus Mesliers Zeit ist uns das Gebet überliefert, das die verelendeten Bauern jeden Morgen sprechen; "Gott im Himmel, erweise uns die Gnade und erlöse mich und die Frau und die Kinder noch dieses Jahr von unserem Leben!"

Meslier zitiert seinen Zeitgenossen La Bruyère (1645-1696): "Über das Land hin sieht man gewisse wilde Tiere, Männchen und Weibchen, fahl und geschwärzt und ganz von der Sonne verbrannt, an der Erde haftend, die sich durchwühlen, {. . .} sie haben etwas wie eine artikulierte Stimme und wenn sie sich aufrichten, zeigen sie ein Menschenantlitz - und wahrhaftig: es sind Menschen!"

Auch unter den Geistlichen mehren sich nun, offen oder insgeheim, die Stimmen, die diesen Zustand nicht als 'gerechte Strafe der Sünden" und als "gottgewollt" erachten. Meslier sagt sich: Diese gottgewollte Ordnung ist soziales Chaos.

Je mehr seine Bauern verelenden, desto mehr fühlen sie sich gedemütigt und erniedrigt. Sie haben noch kein klares revolutionäres Ziel, und so lautet ihre erste Forderung wie in der Zeit der Bauernkriege: "Menschenwürde!"

Meslier sitzt des Nachts beim Flackern der Kerzenflamme an seinem Tisch und schreibt den sozialkritischen Mittelteil seines Memorandums. Er verdammt
die grobe betrügerische Ablenkung, die vorgibt, der Teufel, der Satan, der Böse trage die Schuld am Elend, an den Missständen, an der Wirrnis der Zeit. Schuld ist in den Augen Mesliers: die Gesellschaftsordnung, die soziale Ungerechtigkeit, die Klassenjustiz und "die Religion, dieses Haupthindernis für die Befreiung und das Glück der Menschen".

Meslier sagt nicht Gesellschaft, er wettert gegen den Staat und seine Vertreter, seine Nutzniesser. Wenn er die feudalistische Gesellschaft anprangert, spricht er von Standesherren und Junkern. Er spricht von Königen, wenn er den Absolutismus als Tyrannei verwirft. Er empört sich gegen das "Gottesgnadentum des Vergnügens" und gegen einen Klerus, der "alle Vorrechte seines Standes dazu benutzt, die politische Tyrannei gutzuheissen".

Meslier schreibt nicht etwa: Staat und Kirche haben gemeinsame Interessen. Es wäre auch genügend eindeutig, wenn er schreiben würde: Staat und Kirche sind Verbündete. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und notiert wörtlich: ''Thron und Altar sind Spiessgesellen. . . Sie verstehen sich wie zwei Beutelschneider."

Meslier verurteilt eine Religion, die zur Resignation aufruft, zum passiven Hinnehmen der sozialen Ungerechtigkeit. Er versucht, die Ursachen des Elends zu entwirren. Die Arbeit wird noch nicht als sozialer Wert an sich eingeschätzt. Die Entlohnung ist eine Verhöhnung, sie entspricht nicht dem Arbeitswert und nicht dem Kraftaufwand, sie dient lediglich und notdürftig zum Überleben.

Mesliers Analyse hält sich an die soziale und wirtschaftliche Struktur seiner Gesellschaft, an den Blickwinkel und den Wortschatz seiner Zeit. Der Zusammenhang von sozialer Bedingtheit und bedingender Wirtschaftsform wird von Meslier zwar geahnt, doch seine geistliche Schulung kommt ihm zuweilen mittelalterlich ahistorisch in die Quere. Seine dialektische Überlegung festigt sich mit der fortschreitenden Niederschrift und überholt allmählich die primitive Gegenüberstellung von reich und arm. geniessend und miserabel, privilegiert und rechtlos.

Meslier ist ökonomisch ungeschult, politisch unerfahren. Es gibt keine Parteien mit politischem Programm. Wer ostentativ zur Partei der Kirche hält, der tut's, weil er von ihrer weltlichen Macht profitiert.

Aber gerade weil Meslier unvoreingenommen ist, sieht er so genau, was gespielt wird. Er sieht den gesamten gesellschaftlichen Vorgang im Dienst des Hofs, des Adels, des Grundbesitzes und der Kirche, das heisst im Dienst einer Oligarchie, die ihrerseits nicht das geringste zum Produktionsprozess beiträgt. "Die da herrschen belegen alle Sorten von Waren mit hohen Abgaben, um daraus ihren Profit zu ziehen" und so auf Kosten des arbeitenden und erzeugenden Volks zu leben, "sie besteuern alles, was verkauft und gekauft wird", nichts bleibt von Abgaben verschont, "nach Belieben treiben sie Geld ein fürs Heiraten, Taufen und Sterben", ja "es fehlt gerade noch, dass sie mit Steuern belegen den Lauf der Winde und der Wolken."

Nach der emotional gefärbten Aufzählung führt Meslier schlussfolgernd fort: "Die abscheuliche Ungleichheit ist ungerecht, denn sie beruht weder auf dem Verdienst der einen noch auf dem Verschulden der andern."

Man spürt, wie Meslier sich zornig aufreckt in seiner Anklage gegen die "Parasiten, die das Gut der Nation verschleudern." Er sieht seine armen Bauern an und begehrt auf gegen die Reichen, die Hofschranzen, die Kurtisanen, "die schönen Herren und schönen Damen, so wohlgeschmückt, so wohl ausstaffiert, so wohl parfümiert", sie leben "auf dem Leib des Volkes wie die Läuse" und sind "nicht nötig noch nützlich in der Welt (. . .) und beschäftigen sich mit nichts anderem als das Volk zu verachten, auszuplündern und zu entrechten".

Schmarotzer sind ihm auch die Juristen, die "Leute des Rechts und eigentlich Leute des Unrechts", die "allen Ungerechtigkeiten recht geben" und "den kleinen Dieb und den kleinen Mörder rädern und henken, aber nichts wagen zu unternehmen und zu sprechen wider die großen und mächtigen Diebe und die großen und mächtigen Mörder und die Brandstifter, die unsere Erde verheeren."

Nicht zuletzt sind Schmarotzer für Meslier auch die Priester: "Ein guter Bauer bringt mit seinem Pflug mehr zum Gedeihen, als er selber zum Leben braucht; aber alle Priester brachten zusammengenommen mitsamt allen ihren Gebeten kein einziges Korn hervor."

Meslier lebt in einer Provinz, wo die Bauern nach uraltem Brauch Dorfkommunen bilden, um ihre gemeinsamen Rechte so gut es geht zu verteidigen. In Mesliers Überlegungen sagt sich eine tausendjährige Hoffnung aus. An seinem Zorn und seinem Mitleid reift die Vision einer gerechteren Welt.

Die christlichen Sklaven Roms, die aufständischen Bauern des Mittelalters, Thomas Münzer, Carnpanella, Babeuf und bestimmte Gemeinschaften unsrer Tage träumen von einem christlichen Kommunismus. Meslier ist in der Menschheitsgeschichte der erste, der eine atheistisch-kommunistische Gesellschaft fordert.

Albert Soboul stellt fest: "Mesliers System ist eine Einheit. Mesliers Kommunismus ist wesenseins mit seinem Atheismus. Er bezichtigt und bekämpft Religion und Kirche nicht nur wegen der geistigen und sittlichen Entmündigung, die sich aus Kirchenlehre und Gängelei ergibt, sondern auch deswegen, weil sie einer umzustossenden sozialen Ordnung als Schutzwehr dienen."

Schon gibt es bei Meslier, die kommunistische Idee fortführend, den Anklang einer gewaltlosen brüderlichen Anarchie (die nicht den nihilistischen Terror meint, den man heutzutage teils irrig teils demagogisch als Anarchismus ausgibt).

Meslier verwirft die Güterteilung in Form von gleichem individuellem Besitz. Er rühmt hingegen die gemeinsame Nutzniessung des gemeinsamen Besitzes "aller Güter, aller Früchte der Arbeit und aller Annehmlichkeiten des Daseins, {. . .) so dass alle männlichen und weiblichen Einwohner beispielsweise derselben Stadt desselben Fleckens, desselben Dorfs oder derselben Gemeinde und desselben Gemeinwesens,  alle zusammen eine einzige Familie bilden."

Von diesem humanen Glück träumend, ruft er die Revolution herbei: "Völker, wenn ihr klug seid, so vereinigt euch, Völker, wenn ihr Herz habt, so vereinigt euch, um euch gemeinsam vom gemeinsamen  Elend zu befreien!"

Ungenau, weil unerfahren, rührt Meslier ans Prinzip des Generalstreiks: "Behaltet zurück alle Reichtümer, die ihr erschafft! (. . .) Gebt nichts den hochmütigen, unnützen, frömmelnden Faulenzern, die in dieser Welt nichts Nützliches erzeugen!"

Die Gegner eifern: "Gesetzlosigkeit! Zuchtlosigkeit! Unordnung! Anarchie!" Dass Anarchie ein hohes soziales und humanes Ziel ist, sie wissen's nicht. Sie kennen nicht die Definition Kants: Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.

Als Mesliers 1729 zum Sterben kommt, ist Immanuel Kant 5 Jahre alt. Kant wird erklären, es sei sophistisches Blendwerk der Vernunft, aus dem bloßen Bestehen der Welt unbekümmert auf einen Weltenschöpfer zu schliessen. Im übrigen seien die religiösen Einrichtungen und alle Dogmatik und alle gottgefälligen, auf jenseitige Belohnung erpichten Werke nichts als Wahn.

Meslier fühlt den Tod nahen und da schlägt ihm das Gewissen:

"Ich selber bin vom Rang und Wesen derer, die ich die grossen Betrüger und Verführer nenne; ich spreche gegen mein Amt, aber, liebe Freunde, ich spreche nicht gegen die Wahrheit. {. . .) Und wenn es geschehen sollte, dass man mich nach meinem Hinscheiden (...) verhöhnt und verleumdet, so kann es für keine andere Untat sein als dafür, dass ich frei und aufrichtig die Wahrheit gesagt habe."

Wenn er sich also an die Brust schlägt, so nicht aus einer jähen moralischen Anwandlung, nicht aus Zerknirschung und Reue. Was er sich selber vorwirft, ist, dass er durch sein Schweigen "zur Unterdrückung, Ausbeutung und Bigotterie beitrug".

Er schreibt sein Memorandum zu Ende, er hat es eigenhändig mehrfach kopiert und hinterlegt nun die Kopien an verschiedenen Stellen.

Einige Jahre nach seinem Tod wird ein handschriftliches Exemplar heimlich in Umlauf gesetzt. Es wird von Begeisterten abgeschrieben und weitergereicht. Wie es scheint, wird Mesliers "Memorandum" zum Bestseller des geheimen Buchhandels. Freilich nicht für arme Landleute, sondern für Stadtbürger, die reich genug sind, um sich ein teures Manuskript leisten zu können.

Gelehrte, Notare, Staatsbeamte, Minister, Kardinale veranlassen weitere Abschriften. Der französische König Ludwig XV. verwahrt eine Kopie in seiner Bibliothek. In einer anderen Abschrift blättert zuweilen Friedrich der Grosse. Die französische Staatsbibliothek besitzt Abschriften aus Mesliers Hand: 716 engbeschriebene Seiten.

1864, zweihundert Jahre nach Mesliers Tod, erscheint in Holland eine vollständige Ausgabe des "Memorandums" unter dem Titel: "Testament des Jean Meslier". 1937 erfolgt eine russische Übersetzung, 1955 gibt es einen Auszug in polnischer Sprache, 1960 eine tschechische Ausgabe.

Der Obelisk, den Moskau zur Erinnerung an die Wegbereiter des wissenschaftlichen Sozialismus errichtet, verzeichnet den Namen Jean Meslier.

1964 veranstaltet die Universität Aix-en-Provence ein internationales Kolloquium über den Cure Meslier. Das französische Staatliche Zentrum für Wissenschaftliche Forschung veröffentlicht 1965 ihr Studienergebnis unter dem Titel: "Der Pfarrer Jean Meslier: Atheist, Kommunist und Revolutionär unter Ludwig XIV." 1971 erscheint eine dreibändige französische Ausgabe des "Memorandums".

Kehren wir noch einmal ins 18. Jahrhundert zurück.

1762 schreibt Voltaire in einem Brief: "Ich habe den christlichen Wunsch, dass sich das Testament des Pfarrers Meslier multiplizieren möge wie die fünf Brote und dass es die Seelen von Fünftausend speise, denn mehr als je verabscheue ich die Infame."

Voltaire veröffentlicht "Auszüge aus den Gedanken des Jean Mesliers", aber er bringt es fertig, Mesliers Gesellschaftskritik zu unterschlagen und den Atheisten Meslier in einen "bürgerlich-deistischen Prediger" umzumogeln. 

Voltaire spöttelt: "Der Pfarrer Meslier schreibt einen Stil wie ein Droschkengaul, aber dieser Gaul kann ganz gehörig ausschlagen."                                  

Freilich, der Landpfarrer Meslier pflegt seinen Stil nicht wie ein eleganter Voltaireaner. Er schreibt die ungekünstelte Bauernsprache, die nach Erde und Mühsal schmeckt, nach der harschen Frühe und dem todmüden Abend, nach Demütigung und Zorn.

Meslier erklärt rundweg, die religiösen Gebote und Verbote seien von den vereinten geistlichen und weltliehen Machthabern erfunden worden zur Sicherung ihrer Macht. Das trifft sich mit der Ansicht des Zeitgenossen Bernhard de Mandeville (um 1670-1733). Dieser englische Satiriker kommt zum Schluss, der ausschliessliche sittliche Ansporn seien Erwägungen des puren Egoismus. Für diese radikale, keineswegs weltfremde und im übrigen nicht neue Ansicht hätte Schopenhauer ihn ins Tollhaus gesperrt. Die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts finden hingegen in Mandevilles Darlegungen manche eigene Erfahrung bestätigt.

Für Kant ist die "Aufklärung" das Erwachen des Menschen aus seiner selbstverschuldeten geistigen Unmündigkeit. England gellt im 16. Jahrhundert voraus, Frankreich folgt im 17. und 18. Jahrhundert mit fortschreitender Identifizierung von moralischer und sozialpolitischer Kritik. Hand in Hand geht damit die Reinigung der Wissenschaft von Tabus und der Beginn der neuzeitlichen Pädagogik, die achtsam von der Psyche des jungen Menschen ausgeht.

Nach Voltaire reist auch Montesquieu im Jahre 1729, als Meslier stirbt, nach England, um dort die "Aufklärung" zu studieren, inmitten eines Volks, das den Fanatismus verabscheut und den Denker respektiert.

Die beiden kennen die englische empiristische Philosophie, die nun das französische Denken befruchten wird. Sie kennen Locke, sie lasen Hobbes, der in der Religion nur "staatlich anerkannte Dämonenfurcht" erblickt. Mit spitzbübischem Vergnügen liest Voltaire bei Collins die Stelle: "Ein rechtschaffener Mensch mit gesundem Verstand ist gleichzeitig ein freier Denker; hingegen ist der Feind des freien Denkens häufig ein bisschen schwach im Kopf, fanatisch und so intolerant, dass er im Namen seines Gottes unmenschlich sein kann."

Für die großen Freidenker des 18. Jahrhunderts, für Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot, d' Alembert, Helvetius, Holbach, La Mettrie sind die Begriffe "Religion" und "Intoleranz" identische Begriffe. Wenn sie die Begriffe "blinder Glaube" und "abergläubisch" gebrauchen, so meinen sie die offizielle Staatsreligion. Sie wettern gegen die Prozesse wegen "Gotteslästerung". "Was?" sagen sie. "Ist euer Gott denn so hilflos, dass er sich nicht selber verteidigen kann? Wenn ihr die Staatsjustiz ruft, so macht ihr aus dem lieben Gott ein Politikum und aus dem Gotteslästerer einen politischen Verfolgten."

Voltaire reibt sich die Hände, wenn er eine Stelle in Mesliers Vorwort zum "Memorandum" liest. Da berichtet Meslier, er sei unlängst einem Mann begegnet,
der "kein Studierter war, doch offenkundig genügend Menschenverstand besass, um die widerwärtigen Missbräuche zu erkennen und zu verurteilen", denn er habe
gesagt, "man solle alle Grossen der Erde (. . .) mit den Gedärmen der Priester erwürgen und daran auf hängen.

Der Priester Meslier fügt hinzu: "Diese Redeweise erscheint gewiss rauh, ungehobelt und anstössig, aberman muss zugeben, dass sie offenherzig und freimütig ist, kurzgefasst und eindrucksvoll."

Voltaire schreibt 40 Jahre danach an den Freigeist Helvetius: "Könnte der ehrenwerte und bescheidene Vorschlag, den letzten Jesuiten mit den Gedärmen des letzten Jansenisten zu erwürgen, die Lage der Dinge nicht einigermassen ausgleichen?"

Jean Mercier, bei dem Schiller sich einige Anregung zur "Jungfrau von Orleans" geholt hat, Mercier hört zehn Jahre später im Pariser Café "Procope" jenes ominöse Zitat Mesliers aus dem Mund des Philosophen Denis Diderot (1713-1784). Diderot muss allerlei wütende Anwürfe einstecken, denn in einem seiner Gedichte gibt es die Strophe:

"Würde der Mensch wagen,
Der Stimme seines Herzens zu folgen,
So würde er uns sagen:
'Die Natur hat weder Diener noch Herren geschaffen.
Ich will keine Gesetze erlassen und keine hinnehmen',
Und seine Hände würden die Gedärme von Priestern flechten zum Strick,
die Könige zu erwürgen."

Wiederum ein halbes Jahrhundert danach liest man den Vers des russischen Dichters Puschkin:

"Wir erlustieren die braven Bürger

Und am Schandpfahl

Erwürgen wir mit den Därmen des letzten Popen
       Den letzten Zar."

 

Schliesslich steht im Mai 1968 auf einer Pariser Universitätswand die Frage: "Erwürgt man den letzten Soziologen mit den Gedärmen des letzten Bürokraten, bleiben dann immer noch Probleme übrig?"

Die hartnäckige historische Fortdauer der etwas unappetitlichen Empfehlung von Mesliers Bauern bis zum Pariser Mai entnahm ich der französischen bürgerlichen Tageszeitung "Le Monde", die dem Gedanken an den Pfarrer und Atheisten Meslier zwei ganze Seiten gewidmet hat. Ich zitierte die Stelle, um die Freidenker des französischen 18. Jahrhunderts und ihren Wagemut zu kennzeichnen.

Ich nannte einen der vollkommenen allseitigen Denker: Denis Diderot. Er betritt die von Meslier errichteten geistigen Räume und möbliert sie neu. Wie die Schar der anderen Aufklärer weist er sich aus als "Skeptiker und Philosoph".

Man muss wissen, dass "Skeptiker" im 18. Jahrhundert gleichbedeutend ist mit "Ungläubiger" und "Philosoph" gleichbedeutend mit "Freidenker".

Da der Gedanke an Gefängnis und Galgen ihm einiges Unbehagen erzeugt, hat Diderot nichts dagegen, wenn man ihn als freireligiösen Deist ausgibt. Von seinem
36. Lebensjahr an ist er offenkundig atheistischer Materialist, denn "nur diese Haltung verbürgt die Freiheit,
unbeeinflusst zu  denken und vorurteilslos sittlich zu sein."

Die christliche Tugendlehre verwirft Diderot als naturfremd, naturwidrig, ja gewissermassen "als unzüchtig", weil "gänzlich im Widerspruch zur natürlichen Sittlichkeit". Er sagt ganz epikurisch: "An Gott glauben, hindert daran, glücklich zu sein; an Gott glauben, ist eine Gefahr für die Sittlichkeit, denn an Gott glauben denaturiert den Menschen."

"Moralische Vorschriften mit gewissen natürlichen Vorgängen verknüpfen", das gilt Diderot als "Unsitte" und er lässt durchblicken, dass ihm diese "Unsitte" eigentlich schon als "Unsittlichkeit" erscheint. Für ihn ist einzig und allein der Atheist "der Weise, der im stände ist, alle Vorteile sittlicher Rechtschaffenheit zu geniessen".

Diderot    verkörpert   den   totalen   Menschen,   der "nichts glauben  und alles wissen will". Er opfert Jahre seines Lebens, um die "Enzyklopädie" mit ihren 60 000 Stichwörtern zusammenzustellen, diese Summe des Wissens seiner Zeit. Die "Enzyklopädie" ist  freigeistig bis in die grammatischen Beispiele des Gebrauchs von Adjektiven. Sie wendet sich unentwegt gegen den kirchlichen Obskurantismus, gegen jede Art von Aberglauben, gegen  Rassenwahn, Gewalt  und Intoleranz.

Später schüttelt ein Abbé den Kopf: "Mit der grössten Frechheit, die Gott gegeben hat, polemisiert dieser Diderot gegen Gott!" Was den Abbé nicht hindert, die kühnsten, die "frechsten" Schriften Diderots gesammelt herauszugeben und mit einer schmeichelhaften Charakterzeichnung des Menschen Diderot zu versehen.

Im "Nachtrag zu Bougainvillés Reise" schreibt Diderot den noch immer und noch lange gültigen Satz: "Gehen Sie schnell die Geschichte der Jahrhunderte durch, dann werden Sie die Menschen stets drei Gesetzen unterworfen finden: dem Naturgesetz, dem Staatsgesetz und dem Religionsgesetz, und Sie werden feststellen, dass die Menschen diese drei Gesetze abwechselnd brechen mussten, weil diese drei Gesetze nie übereinstimmen, und deshalb gab es bisher in keinem Land einen wirklichen Staatsbürger, einen wirklichen Gläubigen, einen wirklichen Menschen."

D' Alembert (1717-1783), Mitarbeiter der "Enzyklopädie" und erster Vertreter des Positivismus, fordert wie viele Laien und Priester vor und nach ihm die Trennung von Kirche und Staat. Die Aufgabe der Religion sei nicht, den Staat zu stützen, und der Staat habe kein Recht, gegen das freie kritische Denken vorzugehen. D’Alembert erklärt in einer öffentlichen Sitzung der Académie francaise: "Die Furcht, sich Feinde zu schaffen oder zum mindesten Verwünschungen zu erfahren, hat Tausende von Schriftstellern dazu gebracht, dass sie demütig den Vorurteilen huldigen, die sie gleichwohl als schädlich fürs Schrifttum erkannten, und dass sie frömmlerich anbeten, was sie mit ihrer Kritik ehren sollten, auch dass sie aus lauter Vorsicht die vom Staatsschutz begünstigten mittelmässigen Erzeugnisse loben und endlich ihren Geist dazu verwenden, zu verschweigen statt zu sagen, was sie denken."

Unter einhelligem Beifall schlägt d' Alembert vor, jeder   Schriftsteller   möge  ein   "geistiges  Testament" hinterlassen, eine aufrichtige Konfession "seiner wahren Weltschau".

Nach dem Vorbild des Pfarrers Meslier gibt es danach eine bemerkenswerte Reihe postumer Geständnisse, darunter die zeitgeschichtlich bedeutenden von Diderot, von Holbach, von Helvetius (1715-1771), der die Moral als "eine Art von experimenteller Physik" auffasst.

Im Geburtsjahr d' Alemberts wird in England die erste Freimaurerloge gegründet. Aus gewerkschaftlichem Zusammenschluss entwickelt sich eine humanistische Gemeinschaft im ausdrücklichen Gegensatz zum Kirchenglauben. Man will nicht für wahr hinnehmen, sondern wahrnehmen. Man beruft sich auf Lockes berühmten Grundsatz: "Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war." Dieser englische Sensualismus macht Schule. Er kann sich auf Epikur berufen und bedeutungsvoll darauf hinweisen, dass die mittelalterliche Kirche jede sensualistische Erkenntnis als unversöhnlichen Widerspruch zur Offenbarung verwarf.

Der englische Sensualismus macht Schule. Als Meslier stirbt, ist Etienne Condillac (1715-1780) der angehende Philosoph, der lehren wird, sämtliche seelischen Vorgänge, von den Erlebnissen bis zum Denken und Wollen, seien Umwandlungen von Sinneseindrücken und diese sinnlichen Wahrnehmungen seien die ausschließliche Quelle der Erkenntnis. Ehe später Condorcet (1743-1794) Gift nimmt, wird er, der "Vulkan unter Schnee", sein Kredo schreiben: "Die Wissenschaft wird den Tod überwinden."

Die französischen Denker jener Zeit verspüren nicht den mindesten Drang, durch akademischen Gallimathias distinguiert zu erscheinen. Sie schreiben den klaren Stil, der einem klaren Denken entspricht.

Dreizehn Jahre vor Mesliers Tod wird der künftige Abbé Raynal (1713-1796) geboren. Er verklagt den Klerus, wird seines Predigeramtes entsetzt und lebt als Exilant eine Zeitlang in Berlin. Die Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt liest eifrig seine "Correspondance", besucht Diderot in Paris und hält zu Helvetius und Meslier.

Meslier hinterlässt seine Botschaft dem Jahrhundert der "Aufklärung", der grossen heroischen Epoche des freien Denkens.

Aber noch immer ist Vorsicht geboten. Die Protestanten werden noch grausam verfolgt. 1724 verurteilt man Reformierte zur Galeere und ihre Prediger zum Tod. Bedenken wir's: es ist erst rund 250 Jahre her!

Zwischen 1743 und 1770 werden in Frankreich acht protestantische Pastoren gehängt, weil sie dem christlichen Glauben ihrer Überzeugung nicht abschworen. Für Verfasser und Verleger von Schriften gegen Religion und Kirche bestimmt ein königliches Edikt vom Jahr 1757 die Todesstrafe. Bedenken wir's: es ist erst 220 Jahre her!

1762 muss Rousseau aus Glaubensgründen flüchten. Während Voltaire über Meslier schreibt, wird ein reformierter Pastor zum Tod verurteilt, weil er predigte. 1766 wird der achtzehnjährige Chevalier de La Barre ohne Beweise angeklagt, ein Kruzifix beschädigt, eine Prozession nicht gegrüsst und Voltaires "Philosophisches Wörterbuch" gelesen zu haben. Man reisst ihm die Zunge heraus, hackt ihm die rechte Hand ab, ehe man ihn köpft. Bedenken wir's: es ist erst 210 Jahre her!

In seiner "Enzyklopädie" schreibt Diderot beim Stichwort "Intoleranz": "Christus sagte: Selig sind die Sanftmütigen, die Friedfertigen, die Barmherzigen!" Und Diderot fügt für seine kirchengläubigen Zeitgenossen hinzu: "Fragt euer Gewissen, ob ihr sanftmütig, friedfertig und barmherzig seid!"

Die Intoleranz bäumt sich immer wieder eifernd und tötend auf. Das Kuriose ist, dass dies gewöhnlich mit staatspolitischen Schwierigkeiten zusammentrifft.

So setzt man denn immer wieder eine auswechselbare  Maske  auf, indem  man sich den Grundsatz des Descartes ins Gedächtnis ruft:  "Larvatus prodeo. . ."

Fontenelle, Zeitgenosse Mesliers, verbirgt unter der schöngeistigen Maske den perfekten Freigeist der gebildeten Oberschicht. Metaphysik und Wunderglaube sind ihm zuwider: "Zuviele Leute haben in ihrem Kopf eine falsche Vorstellung von etwas Wunderbarem, das eingehüllt ist in eine Dunkelheit, die sie respektieren."

Fontenelle hinterlässt ein ausgezeichnetes Rezept, das noch lange zu beherzigen ist: "Verschaffen wir uns volle Gewissheit über die Tatsachen, ehe wir uns über die Ursachen den Kopf zerbrechen!"

Mesliers "Testament" ist nach wie vor der heimliche Bestseller, so sehr, dass man Fälschungen fabriziert.

Eine bis in unsere Tage gelesene Schrift über den "Gesunden Menschenverstand" wird als Werk des Pfarrers Meslier ausgegeben. Sie stammt in Wahrheit von dem in der Pfalz geborenen Baron Holbach (l 723-1789).

Vor zweitausend Jahren war Lukrezius der Meinung, das Unwissen habe die Götter erschaffen. Nach ihm gab Statius zu verstehen: "Das erste, was Götter auf Erden erdacht hat, war die Furcht."

1700 Jahre danach fasst Holbach die beiden Ansichten zusammen: "Der Mensch ist abergläubisch, weil er Furcht hat, und er hat Furcht, weil er unwissend ist."

Holbach stellt in tyrannis fest: "Die Gedankenfreiheit in bezug auf Religion kann den Menschen durch nichts geraubt werden, es sei denn durch eine ebenso sinnlose wie unnütze Ungerechtigkeit."

In der Propagandaschrift "Das entschleierte Christentum" entwirft Holbach bereits eine Ethik der Solidarität: "Sittlich sein heisst in Erkenntnis der Beweggründe handeln und dies stets im Hinblick auf die soziale Nützlichkeit."

Holbach bekennt unumwunden: "Ich bin systematischer Atheist." Er sieht in der Religion "eine von Betrügern geformte Liga gegen die Freiheit, das Glück und den Frieden des Menschengeschlechts".

Der Vergleich zwischen der von Meslier und den Aufklärern verworfenen Kirche jener Vage und der Kirche unsrer Gegenwart lässt einen bemerkenswerten Unterschied erkennen. Freilich spült die Bemühung um Erneuerung auch Ausnahmen ans Licht. Einen retrograden Prälaten unsrer Tage, Lefèbre, trifft Holbachs vorweggenommener Spott, wenn er sagt: Die Dorfbewohner sind mit ihrem Pfarrer nie zufriedener, als wenn er seinen Sermon mit unverständlichem Latein vermischt.

Über Holbachs atheistisch-materialistisches Hauptwerk "Das Natursystem" schreibt ein Priester, der Abbé Galiani: "Ich hab ihr Systeme de la Nature gelesen; es ist die Grenzlinie, wo die Traurigkeit der düsteren und trockenen Wahrheit endet; jenseits davon beginnt die Heiterkeit des Romanischen." Der Abbé kommt zur vorsichtig umschriebenen Überzeugung, dass in der gegenwärtigen Welt "die Würfel gefälscht und dass zu viele wertlose Werte im Umlauf sind", und deshalb sei die Krise ausgebrochen, aus der nun "eine neue Welt erwächst".

Holbach versammelt in Paris einigermassen ungeschoren seinen atheistischen Freundeskreis. Auch ein de La Mettrie (1709-1751) erklärt sich offen als Atheist. Aber ihm wird nicht nur in Frankreich, ja sogar in Holland nachgestellt. Aus der Zwangslage erlöst ihn eine Berufung nach Berlin als Mitglied der Preußischen Akademie. Wer ihn beruft, ist Friedrich der Grosse, der eine "Eloge de La Mettrie", ein "Lob auf de La Mettrie" verfasst.

"Der Mensch ist eine Maschine" verkündet La Mettrie in seinem mechanistisch-materialistischen Hauptwerk "L' Homme machine". Das Denken bestimmt als Funktion der Gehirnmaterie unser sittliches Verhalten und macht somit alle Religionen "überflüssig". Der "Alte Fritz meint dazu: "Allen, die von Natur aus geschworene Feinde des Fortschreitens der Menschlichen Vernunft sind, musste dieses Werk missfallen." Die eingeschworenen Feinde der Vernunft haben freie Bahn und geifern um so mehr, als ganz Europa sich auf das Buch des Freigeists La Mettrie stürzt.

La Mettrie wehrt sich sowohl gegen eine Präponderanz des Geistigen wie gegen eine Ausschliesslichkeit der Materie. Damit geht er über unseren zeitgenössischen Materialismus hinaus. Er lässt uns eine Weltschau ahnen, die den schwarz-weissen Dualismus nicht mehr kennt, ja auf diese Weise das dialektische Denken erst befreit.

Die Welt wird dann glücklich werden, wenn alle Menschen zu Atheisten geworden sind, das ist La Mettries feste Überzeugung. Er meint, die christliche Moral lehre uns nur negative Tugenden: Erwartung einer jenseitigen Belohnung oder Furcht vor der Strafe, Einwilligung in Armut, Leiden und Verzicht.

Und warum das? fragt La Mettrie. Damit wir die Macht und die Privilegien und den Lebensgenuss der herrschenden Klasse und ihren Staat und ihre Moral nicht stören, so antwortet er wie vor ihm der Pfarrer Jean Meslier.

La Mettrie meint, wenn es schon eine "Sünde" gäbe, so wäre es die Reue. Gegen die moralinsaure Pseudo-Ethik lehrt La Mettrie die epikurische Lust am Dasein, die geistige Lebensfreude: "Das ist's, was dem Menschen geziemt, um so mehr als wir nicht wissen, woher wir kommen noch wohin wir gehn."

Für Voltaire, Diderot, Holbach ist La Mettrie der willkommene Blitzableiter. Sie beschuldigen ihn scheinheilig aller Laster, um von sich selber die Sittenschnüffler der Kirche abzulenken. Zu solch unedler Haltung verleitet, vor 200 Jahren, die immer noch nagende Furcht vor einer unnachsichtlichen Kirche, der ein Staat seine Sbirren leiht.

Staat und Kirche erheben empört und drohend den Vorwurf, die Aufklärer ermangelten "des Respekts vor Gott." Die beschuldigten Freidenker wissen sich ihrerseits im Recht, wenn sie den Staat und die Kirche, zu deren Empörung, des Mangels an "Respekt vor dem Leben" bezichtigen.

Die Scheiterhaufen sind heute erloschen. Was fortdauert, sind Folterungen durch staatlich besoldete Bestien, sind Kriege und die Ausrottung ganzer Völker und die Unterweisung im Massenmord unter der Ägide irgendeiner "göttlichen Vorsehung". Ist das der "Respekt vor dem Leben"? O Widerspruch, o Tartüfferie!

Gegen die "freiwilligen Sklaven der Vorurteile" und gegen ihre Unlust, nachzudenken, beginnt La Mettrie sein Werk "L'Homme machine" mit den einleitenden Worten: "Für einen Weisen genügt es nicht, die Natur und die Wahrheit zu untersuchen, er muss auch zu sprechen wagen, und dies zugunsten der kleinen Schar derer, die denken wollen. . ."

Unlängst blätterte ich wieder im Tagebuch des 1910 verstorbenen Schriftstellers Jules Renard.

Er wundert sich, dass in unserer Welt, immer noch so viel hingenommen und immer noch so wenig gedacht wird. Und an einem schönen Julitag schreibt er, der zuversichtliche Pessimist, in sein Diarium den einprägsamen Satz: "Warum sagt man Freidenker? Denker allein genügt!"

Paris 1975

Im Süden 1976

Biographie und Bibliographie von Friedrich Hagen

Geboren 1903 in Nürnberg, lebte in Frankreich.

Schauspieler, Theaterleiter, Maler und  Schriftsteller.

1933 Flucht nach Frankreich;

1945 - 1950 Chefredakteur am französischen Rundfunk. Danach freier Schriftsteller und Maler.
1979 stirbt er an Krebs.

Buchveröffentlichungen:

 

Die Legende vom Tod. Spiel 1923 (vergr).

Weinberg der Zeit. Lyrik 1949 (vergr).

Paul Eluard. Essay 1949 (vergr).

Paroles a face humaine. Lyrik (in franz. Sprache) 1949. Paris. 1955, 1956 (vergr).

Zwischen Stern und Spiegel/Jean Cocteau als Zeichner. Essay 1956.

Paul Eluard: Vom Horizont eines Menschen zum Horizont aller Menschen. Übers. und Essay 1956.
Kirszenbaum. Essay (in franz. Sprache) 1956.
Leben und Werk des Jean Cocteau. Essay, 2 Bande 1961.
Die Kelter des Zorns. Roman 1963 (vergr).
Leo Maillet, Maler und Radierer.
Essay    1966.
Les Cuves de la Colere. Roman (franz.) 1968.
Zweimal Insel Franken.
Essay 1971.
Begegnung mit Moira. Tagebuch 1976.
                                         

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