Zur Freiheit verdammt
Unbequeme
Thesen des Existentialismus
Thomas
Mohrs
Vorbemerkung:
Die Vorträge von Gerhard Roth und
Wilhelm Lütterfelds haben meine ursprüngliche Planung durcheinander
gebracht. Ursprünglich hatte ich nämlich vor, es mir relativ einfach
zu machen, die Freiheitstheorie des Existentialismus bei Sartre ausführlich
darzustellen und Sie mit deren radikalen Konsequenzen gehörig zu
traktieren. Aber das hätte geheißen, dass ich einfach so tue, als sei
für mich mit dem Vortrag von Herrn Lütterfelds die Position von Herrn
Roth erledigt, also das Problem der Freiheit im Lütterfelds-Kantschen
Sinne de facto geklärt. Nun hatte und habe ich aber mit beiden Ansätzen,
dem von Herrn Roth und dem von Herrn Lütterfelds, gewisse
Schwierigkeiten, sodass ich es mir einfach nicht verkneifen kann, in
einem ersten Abschnitt zumindest über einige dieser Schwierigkeiten
kurz zu berichten, und dann erst – nach einem pragmatischen Schnitt
– zu meinem ursprünglichen Programm überzugehen; sprich: ich werde
Sie erst mit einer gewissen Verzögerung und zudem in etwas
komprimierter Form mit den „unbequemen“ Thesen des Existentialismus
konfrontieren.
1. Gerhard Roths „radikaler neurobiologischer Konstruktivismus“
und das Determinismus-Paradoxon
1
.1. Grundgedanken des „radikalen neurobiologischen
Konstruktivismus“
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf das
Kernstück der Neuro-Philosophie Gerhard Roths, das in seinem Vortrag
leider viel zu kurz gekommen ist, für die Auseinandersetzung mit seinem
neurobiologischen Determinismus aber höchst wichtig ist. Dieses Kernstück
ist der „radikale neurobiologische Konstruktivismus“, den Roth vor
allem in seinem Buch „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ (Roth,
1997) entwickelt hat. Dieser Theorie zufolge müssen wir folgende
Grundtatsachen anerkennen:
Ø
Das Gehirn ist ein operational geschlossenes,
autopoietisches System, das keinen direkten Zugang zur Außenwelt hat.
Ø
„Außenwelt“-Reize werden ausnahmslos system-intern
als „Perturbationen“ (Störungen) erlebt, auf die das System „viabel“
(»
lebensdienlich-funktional) zu reagieren hat.
Ø
Das Gehirn versteht ausschließlich seine eigene neuronale
Einheitssprache, die „an sich“ qualitativ bedeutungsfrei ist.
Ø
Gehaltvolle Informationen (über die Außenwelt, den
eigenen Körper sowie mentale Zustände) werden ausschließlich im
Gehirn erzeugt und systemintern kommuniziert.
Und aus diesen
Grundtatsachen ist nach Roth eine fundamentale erkenntnistheoretische
Einsicht abzuleiten:
Ø
Das Gehirn ist im radikalen Sinne Konstrukteur seiner eigenen
Wirklichkeit, und nur zu dieser konstruierten, phänomenalen
Wirklichkeit hat es Zugang.
Was heißt aber dies
nun für die Wirklichkeit jenseits
bzw. außerhalb der vom Gehirn
systemimmanent konstruierten, rein phänomenalen Wirklichkeit, für die
Realität? Roth:
„[Der] Wirklichkeit stellen wir gedanklich eine transphänomenale Welt gegenüber, die ich Realität
nenne. Die Realität ist unerfahrbar und kommt dementsprechend in der phänomenalen
Welt nicht vor.“ (Roth, 1997, 146; Hervorhebung T. M.)
Und das alles gilt selbstverständlich auch für
die Gehirne von Hirnforschern samt deren Forschungsgegenständen, so
dass Roth auch in dieser Hinsicht konsequenterweise feststellt:
„Entsprechend sind auch die Gehirne, mit denen ich
mich als Hirnforscher befasse, als sinnlich wahrgenommene Gehirne natürlich
wirkliche, nicht reale Gehirne.“ (Roth, 1997, 146)
Nun, ich gestehe, dass ich mit diesen Thesen –
wenn ich sie beim Wort nehme – nicht nur gewisse, sondern ziemlich
erhebliche Probleme habe. Denn was will oder meint wohl Herr Roth, wenn
er seinen neurobiologischen Konstruktivismus im Gegensatz zu
philosophisch-metaphysischen Spekulationen als „wissenschaftlich
zwingend“ deklariert, sich zur Beweisführung auf die von der
Hirnforschung ermittelten „Tatsachen“ beruft (Roth, 1997, 146) und
den, der seinen Thesen nicht glauben will,
auffordert, dann müsse er eben bessere Experimente machen, die die
„Tatsachen“ seiner Gehirnforschung widerlegen können? Denn es gibt
im neurobiologischen Konstruktivismus – wenn
man ihn ernst nimmt! – schlechterdings keine „Tatsachen“, bzw.
es gibt sie nur innerhalb einer von einem subjektiven Gehirn als
autopoietischem, in sich geschlossenen System konstruierten phänomenalen
Wirklichkeit. Und ob und inwiefern diese hirnimmanenten
Tatsachen-Konstrukte etwas mit der Realität „außerhalb“ der vollständig konstruktiven
Wirklichkeit des jeweiligen Gehirns zu tun haben, dass wird dieses
Gehirn niemals wissen, da diese „Realität“ niemals wahrnehmbarer
Inhalt seiner Wirklichkeit sein kann. Also gilt auch für die
„Tatsachen“ der Gehirnforschung ohne jede Einschränkung, dass sie
von Hirnforscher-Gehirnen konstruierte phänomenale Wirklichkeit
sind – ebenso wie die Gehirne, an denen die Hirnforscher forschen und
ihre „Tatsachen“ ermitteln.
Also nochmal (abgesehen davon, dass mich irgendwie
das mulmige Gefühl beschleicht, hier reine Selbstgespräche zu führen
...):
Was will oder meint Gerhard Roth, wenn er Menschen, die seine Thesen
ablehnen, sie nicht glauben wollen,
sein „wissenschaftlich zwingend“ entgegenhält? Will er diese
anderen Menschen etwa von der Richtigkeit seiner Thesen überzeugen?
Aber wie sollte das möglich sein, wenn doch seine zentrale These im
Hinblick auf die Freiheits-Problematik lautet, dass das, was ein Mensch
denkt, glaubt oder will, nicht von seinen bewussten Überlegungen und
Entscheidungen abhängt, sondern in den Tiefen seines Gehirns völlig
un- oder unterbewusst determiniert wird. Ob also ein Mensch den Thesen
Roths glaubt oder nicht, hängt – wenn diese Thesen richtig sind –
nicht davon ab, ob diese Thesen richtig sind oder falsch, jemanden überzeugen
können oder nicht, sondern schlicht davon, ob das Gehirn dieses
Menschen kongruent zu den Rothschen Thesen „tickt“ und sie in seiner
phänomenalen Wirklichkeit ebenfalls als „wahr“ oder auch nur als
„plausibel“ konstruiert. Und einen Menschen, dessen Gehirn nicht so
„tickt“ – etwa weil es bereits in seiner Kindheit anders
„abgerichtet“, anders konditioniert wurde und deshalb andere Muster
und Schemata ausgebildet hat als die „naturwissenschaftlichen“ –,
wird Roth einfach deshalb nicht „überzeugen“ können, weil dieses
Gehirn nun einmal determiniert ist, sich andere „viable“
Wirklichkeiten zu schaffen.
An dieser Stelle drängt sich freilich die Frage
auf, warum sich eigentlich überhaupt irgendwer irgendwo hinstellt und
philosophische Vorträge vor Gehirnen hält, in denen Bewusstsein und
Wille eigentlich keine nennenswerte Rolle spielen, die vollständig
neurobiologisch determiniert sind und zudem jeweils in ihrer eigenen
konstruktiv-phänomenalen Wirklichkeit gefangen sind? Klar, weil solche
Typen – Leute wie ich also – dazu determiniert sind. Aber dieses
„Argument“ determiniert mich nun unwiderstehlich, kurz etwas zum
Determinismus-Paradox zu sagen:
1.2. Das Determinismus-Paradoxon
Selbst wenn wir in unser Selbstverständnis
internalisieren, dass alles, was sich in unserem Bewusstsein abspielt,
was wir bewusst erleben, durch nicht bewusste physiologische Prozesse in
unserem Gehirn vorstrukturiert und letztendlich determiniert ist, ändert
sich lebensweltlich nichts – jedenfalls nicht notwendig. Denn es mag
zwar sein, dass Menschen aufgrund der ab-strakten Einsicht in ihre
neuronale Determiniertheit verzweifeln, sich womöglich gar das Leben
nehmen oder sich umgekehrt – über Zumutungen wie „Verantwortung“
und „Schuld“ nur noch höhnisch lachend – hemmungs- und rücksichtslos
ins Leben stürzen, eben weil
sie sich als dazu determiniert deklarieren dürfen. Aber erstens müssen
dies keineswegs notwendig die Konsequenzen der Einsicht in die
Determiniertheit sein, und zweitens ist nicht zu übersehen, dass sowohl
Verzweiflung und Selbstmord als auch der hemmungslose Hedonismus von
entsprechenden Entscheidungen
des jeweiligen Menschen abhängen. Nun kann man natürlich – aus der
Perspektive des radikalen neurobiologischen Konstruktivismus – dagegen
wiederum gebetsmühlenartig einwenden, dass auch die Entscheidungen für
den Selbstmord ebenso wie für den Hedonismus als Akte des Bewusstseins
per definitionem identisch sind mit neuronalen Zuständen, folglich
ihrerseits determiniert, aber diese Argumentation macht nur die völlige
Beliebigkeit der deterministischen Lehre deutlich. Denn wenn man immer
und in jeder Situation seines Lebens determiniert ist, dann ist es im
Grunde völlig überflüssig, den Aspekt der Determination überhaupt zu
erwähnen – der Hinweis auf die Determiniertheit kann dann immer nur
eine analytische Aussage sein, die zu keinerlei neuer Einsicht führt,
keine neue Information zu einer beliebigen Situation enthält. Zudem
gilt es zu bedenken: Wenn wir uns angesichts der Einsicht, jederzeit in
unserem Denken, Urteilen und Handeln determiniert zu sein, buchstäblich
für alles „entscheiden“ können,
vom Selbstmord über den wilden Hedonismus bis hin zu einem Leben als
Heiliger, können wir sagen, dass wir exakt dann ein Höchstmaß an
Beweglichkeit und Flexibilität in unserem Entscheiden und Handeln
erreichen, wenn wir erkennen, dass wir vollständig determiniert sind
– und damit gewinnt der Begriff der Determination nicht nur etwas
Paradoxes, sondern durchaus auch etwas Absurdes bzw. Komisches. Gerhard
Roth ist determiniert, seinen neurobiologischen Konstruktivismus zu
konstruieren; Wilhelm Lütterfelds ist determiniert, diesen
Konstruktivismus zu dekonstruieren und sich für den Kantischen
Dualismus stark zu machen, und ich bin determiniert, Ihnen heute das zu
sagen, was ich Ihnen sage – wobei Sie alle natürlich von ihren
autopoietischen Gehirnen dazu determiniert wurden, sich mein
determiniertes Geschwätz anzuhören. Doch, die hat schon was
Prickelndes, diese Philosophie ...
Und was nun das Thema „Freiheit“ betrifft: Wenn
wir determiniert sind, uns frei zu fühlen, dann fühlen
wir uns eben frei und können und dürfen uns auch so verhalten, als
ob wir frei wären – weil wir schließlich auch dazu determiniert
sind. In diesem Sinne beantwortet auch Wolf Singer als entschiedener
Verfechter des Neuro-Determinismus die Journalisten-Frage, ob man sich
auch dann weiterhin für frei hält, wenn man erkannt hat, dass es sich
dabei nur um eine Illusion handelt, kurz und knapp mit einem
entschiedenen „Ja“ (Singer, 2006, 9).
2. Kants „Idee der Freiheit“ als lebenspraktischer Rettungsanker
In ähnlicher Weise argumentierte bereits Immanuel
Kant – an den sich ja auch Wilhelm Lütterfelds in seinem Vortrag
schlussendlich als „Rettungsanker“ klammerte –, dass zwar „die
Vernunft in spekulativer Absicht den Weg der Naturnotwendigkeit viel gebähnter
und brauchbarer findet, als den der Freiheit“ (Kant, GMS, 92) –
insofern scheint sich also eine deterministische Anthropologie im Sinne
der Neurophilosophie Gerhard Roths theoretisch
schlicht als plausibler aufzudrängen. Aber all dies ändert eben
nach Kant nichts daran, dass die Menschen sich „dem Willen nach als
frei denken“ (ebd., 91;
Hervorhebung
T. M.) und es „der subtilsten Philosophie eben so unmöglich [ist],
wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln“
(ebd., 92). Ob es also Freiheit gibt, ist eine Frage, die nach Kant
theoretisch-spekulativ schlechterdings nicht zu beantworten ist.
„Freiheit“ ist – so Kant – eine bloße „Idee
der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist“ (GMS,
92; vgl. entspr. 96).
Aber derjenige, der die Realität der Freiheit bestreitet, der
Determinist, steckt im gleichen Schlamassel. Doch genau dieser
Schlamassel der theoretischen Philosophie ist es, dem Kant im Hinblick
auf die „Idee der Freiheit“ etwas sehr Positives abgewinnt, und zwar
mit einer überaus pragmatischen Argumentation:
„Diese Gleichheit, des Loses der menschlichen
Vernunft, begünstigt nun zwar im spekulativen Erkenntnisse keinen von
beiden, und da ist auch der rechte Kampfplatz nimmer beizulegender
Fehden. Es wird sich aber in der Folge zeigen, daß doch, in Ansehung
des praktischen Gebrauchs, die
Vernunft ein Recht habe, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im
Felde der bloßen Spekulation, ohne hinreichende Beweisgründe,
vorauszusetzen befugt wäre; weil alle solche Voraussetzungen der
Vollkommenheit der Spekulation Abbruch tun, um welche sich aber das
praktische Interesse gar nicht bekümmert. Dort ist sie also im Besitze,
dessen Rechtmäßigkeit sie nicht beweisen darf, und wovon sie in der
Tat den Beweis auch nicht führen könnte. Der Gegner soll also
beweisen.“ (Kant, KdrV, B 805)
Und in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“
nimmt Kant die Ritter des Determinismus in ähnlicher Weise auf die Hörner:
„Diejenige, welche sich solcher hohen Erkenntnisse rühmen,
sollten damit nicht zurückhalten, sondern sie öffentlich zur Prüfung
und Hochschätzung darstellen. Sie wollen beweisen;
wohlan! So mögen sie denn beweisen, und die Kritik legt ihnen, als
Siegern, ihre ganze Rüstung zu Füßen“ (Kant, KpV, 109)
Wohlan! Halten wir es also klugerweise mit großen
Philosophen wie Immanuel Kant und Wilhelm Lütterfelds und erklären:
Wir sind frei, weil wir frei
sein wollen! Und sei es auch
nur „in praktischer Hinsicht“ und weil ohne die Freiheit – wie es
Lütterfelds skizziert hat – unser gewachsenes kulturelles Selbst- und
Weltbild samt seinen fundamentalen Begriffen von „Verantwortung“ und
„Schuld“, „gut“ und „böse“ in sich zusammenbrechen müsste
bzw. weil die
„Idee der Freiheit“ – so Kant - „in praktischer
Absicht [der einzige] Fußsteig [ist], auf welchem es möglich
ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu
machen“ (Kant, GMS, 92).
Selbst Gerhard Roth plädiert aus sehr ähnlichen
Gründen für das Festhalten am praktischen
Freiheitsbegriff, und auch Wolf Singers Gehirn determiniert ihn, sich
aus lebenspraktischen Gründen als Freiheits-Fan zu outen:
„Man fühlt sich frei – und damit gut. Freisein ist
ein gutes Gefühl ...“ (Singer, 2006, 6)
3. (Unbequeme) Thesen des Existentialismus
Soweit, so bequem – nun wird es langsam Zeit für
„unbequem“. Und die Unbequemlichkeit, mit der ich Sie nun
konfrontieren möchte, knüpft sich an die Frage, ob es denn wirklich
stimmt, dass wir frei sein wollen.
Und stimmt es wirklich, dass Freisein so ein gutes Gefühl ist? Diesen
Fragen möchte ich im Folgenden mit der existentialistischen Philosophie
Jean-Paul Sartres zu Leibe rücken, in der freilich die Freiheit
ebenfalls einen absolut überragenden Stellenwert hat, die sogar – ähnlich
wie die Kantische Vernunftphilosophie – mit der Freiheit steht und fällt.
„Steht“ sie aber, diese Philosophie, und mit ihr die Freiheit, dann
ist gerade das das Problem!
3.1. Sartres Existentialismus in Grundzügen
Wie lauten zunächst die zentralen Gedanken, die
grundlegenden Prämissen des Sartreschen Existentialismus?
1. Gott existiert nicht.
Sartre vertritt einen strikt atheistischen
Existentialismus. Und für das menschliche Leben ist dieser
Ausgangspunkt natürlich von entscheidender Bedeutung:
„Dostojewski schrieb: «Wenn Gott nicht existiert,
ist alles erlaubt.» Das ist der Ausgangspunkt des Existentialismus. In
der Tat ist alles erlaubt, wenn Gott nicht existiert, und folglich ist
der Mensch verlassen, denn er findet weder in noch außer sich einen
Halt.“ (Sartre, 32005, 154 f.)
Aus diesem Atheismus leitet Sartre daher eine
zentrale These zur „Grundsituation“ des Menschen in der Welt ab:
2. Die Grundsituation des Menschen in der Welt ist
die der „Geworfenheit“.
„Ich bin in die Welt geworfen,
nicht in dem Sinn, daß ich preisgegeben und passiv bliebe in einem
feindlichen Universum, wie die Planke, die auf dem Wasser treibt,
sondern im Gegenteil in dem Sinn, daß ich mich plötzlich allein und
ohne Hilfe finde ...“ (Sartre, 122006, 953)
Wenn aber Gott nicht existiert und folglich der
Mensch ins Dasein „geworfen“ ist, aber nicht in dem Sinne, dass er
wie ein auf dem Wasser treibendes Stück Holz den alle seine Bewegungen
determinierenden Elementen ausgeliefert wäre, dann gilt als „erste[s]
Prinzip des Existentialismus“:
3. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, bei dem
die Existenz der Essenz
vorausgeht.
„Der Existentialismus ... hält daran fest, daß beim
Menschen – und nur beim Menschen – die Existenz dem Wesen
vorausgeht.
Das bedeutet ganz einfach, daß der Mensch zunächst ist und erst danach dies und das ist. Mit einem Wort, der Mensch
muss sich sein eigenes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft,
in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich; und die
Definition bleibt immer offen; man kann nicht sagen, was ein
bestimmter Mensch ist, bevor er nicht verschwunden ist.“ (Sartre, 32005,
116)
Oder in einer anderen Formulierung:
„[W]enn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest
ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das
existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und
dieses Wesen ist der Mensch [...]. Es bedeutet hier, daß der Mensch
erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst
dann definiert. Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist
nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und
er wird so sein, wie er sich selbst geschaffen haben wird.“ (Sartre, 32005,
149)
Wenn aber die „Definition“ eines Menschen Zeit
seines Lebens als „offen“ zu betrachten ist und er aufgrund seiner
Geworfenheit in die Welt vor der Notwendigkeit steht, sich selbst erst
zu schaffen, dann ist zudem klar:
4. Wesentliche Bedingung dieser Lebensform ist die Freiheit.
„Wenn tatsächlich die Existenz dem Wesen vorausgeht,
ist nichts durch Verweis auf eine gegebene und unwandelbare menschliche
Natur erklärbar; anders gesagt, es gibt keinen Determinismus, der
Mensch ist frei, der Mensch ist die Freiheit.“ (Sartre, 32005,
155)
Natürlich drängt sich an dieser Stelle
unmittelbar der Einwand auf, dass diese These doch höchst
offensichtlicher Blödsinn ist, weil man doch kaum von einem
Neugeborenen sagen kann, dass es in diesem Sinne „frei“ sei, sich
selbst zu definieren bzw. zu „schaffen“. Vielmehr wird jeder
neugeborene Mensch in eine bestehende Situation hinein geboren und dann
im Laufe seines Heranwachsens durch Erziehung, Sozialisation,
Enkulturation entsprechend dieser vorgegebenen Situation konditioniert,
„abgerichtet“, zurechtgeschliffen, angepasst – von
Selbst-Definition und freier Wahl des eigenen „Wesens“ kann hier
folglich keine Rede sein.
Sartre hat mit diesem Einwand kein Problem. Für
ihn ist klar, dass Menschen unausweichlich immer in Situationen stehen,
mit Situationen konfrontiert sind, die jeglichem Wollen ein komplexes
Geflecht von – wie er das nennt – „Wi-drigkeitskoeffizienten“
entgegensetzen:
„Ich bin weder «frei», dem Los meiner Klasse,
meiner Nation, meiner Familie zu entgehen, noch, meine geringsten Gelüste
oder meine Gewohnheiten zu besiegen. [...] Der Widrigkeitskoeffizient
der Dinge ist so, daß es Jahre der Geduld bedarf, den geringsten Erfolg
zu erreichen. Außerdem muß man «der Natur gehorchen, um sie
beherrschen zu können», das heißt, ich muß mein Handeln in die
Maschen des Determinismus einfügen. Anstatt «sich zu machen», scheint
der Mensch «gemacht zu werden» durch das Klima und das Land, die Rasse
und die Klasse, die Sprache, die Geschichte der Kollektivität, der er
angehört, die Vererbung, die individuellen Umstände der Kindheit, die
angenommenen Gewohnheiten, die großen und kleinen Ereignisse des
Lebens.“ (Sartre, 122006, 833)
Was also meint Sartre mit der Freiheit, ohne die
nach seiner Einschätzung der Mensch bloß „ein Ding“ wäre,
„gerade ein bißchen Phosphor, Kohlenstoff und Schwefel“ für das es
nicht nötig wäre, „auch nur den kleinen Finger ... zu rühren“
(Sartre, 32005, 119)?
Nun, Freiheit im Sinne Sartres setzt zunächst
voraus, dass man ein „Für-sich“ geworden ist, d. h. dass man
begreift, dass man jederzeit in Situationen steht,
dass man sich als in
Situationen stehend begreift und zudem begreift, dass man sich in und zu
diesen Situationen verhalten
muss:
„[Es] gibt Freiheit nur in
Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die
menschliche Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen,
die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse
haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die
menschliche Realität ist.“ (Sartre, 122006, 846)
Und die Freiheit, die Menschen in beliebigen
Situationen haben – so Sartre – ist ausschließlich die Freiheit der
Negativität, die Freiheit also, zu beliebigen Situationen „Nein!“
zu sagen, einen Bruch mit dem Bestehenden herbeizuführen und die
Situation entsprechend einem entworfenen Ziel zu verändern – wobei
freilich gilt:
„Erfolg ist für die Freiheit in keiner Weise
wichtig.“ (Sartre, 122006, 836)
Von welch‘ zentraler
Bedeutung dieser negative Freiheitsbegriff für die Philosophie Sartres
ist, mögen folgende Zitate aus verschiedenen seiner Schriften zum
Existentialismus belegen:
„Will man den Menschen retten, so bleibt ... nur das
eine übrig, daß man ihm eine negative Fähigkeit zuspricht: zu allem,
was nicht das Wahre ist, nein zu
sagen.“ (Sartre, 32005, 125)
„Der Wille ist notwendig Negativität und
Nichtungsvermögen, wenn er Freiheit sein soll.“ (Sartre, 122006,
769)
„Vom Ersten Kapitel an haben wir ja festgestellt, daß,
wenn die Negation durch die menschliche-Realität zur Welt kommt, diese
ein Sein sein muß, das einen nichtenden Bruch mit der Welt und mit sich
selbst realisieren kann; und wir hatten festgestellt, daß die
permanente Möglichkeit dieses Bruchs eins ist mit der Freiheit.“
(Sartre, 122006, 763)
Bevor ich abschließend zur Frage zurückkomme, ob wir wirklich in
diesem Sinne frei sein wollen und ob die Freiheit wirklich so ein
„gutes Gefühl“ ist, möchte ich kurz die Konsequenzen schildern,
die Sartre aus diesem Freiheitsbegriff zieht:
3.2. Der Preis der Freiheit: totale
Verantwortlichkeit
Auch wenn für Sartre also klar ist, dass wir
unausweichlich immer in Situationen eingebunden sind, in ein dichtes
Netz von „Widrigkeitskoeffizienten“, so sind wir doch als Menschen
aufgrund unserer Fähigkeit, diese zu „nichten“, in einer besonderen
Lage: „[Von] dem Tag an, da man sich einen andern Zustand denken kann,
fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und entscheiden
wir, daß sie unerträglich sind.“ (Sartre, 122006,
756)
Aber wenn wir Menschen aufgrund unserer Freiheit entscheiden,
ob eine Situation für uns unerträglich ist, dann ist auch klar, dass
es in unserer Verantwortung liegt, Situationen zu verändern, die wir für
uns als unerträglich erkannt haben – und es liegt ebenso in unserer
Verantwortung, wenn wir nicht versuchen, als „unerträglich“
erkannte Situationen zu verändern. Denn mit der Entscheidung, ob wir
als unerträglich erkannte Situationen „nichten“ und verändern
wollen
oder nicht, geht auch die Entscheidung über uns selbst, über
den eigenen „Entwurf“, das eigene Wesen einher:
„Wenn
jedoch die Existenz wirklich dem Wesen vorausgeht, ist der Mensch für
das, was er ist, verantwortlich. So besteht die erste Absicht des
Existentialismus darin, jeden Menschen in den Besitz seiner selbst zu
bringen und ihm die totale Verantwortung für seine Existenz aufzubürden.“
(Sartre, 32005, 150)
Für diese totale Verantwortung findet Sartre
denkbar drastische Beispiele:
„[Wenn] ich in einem Krieg eingezogen werde, ist
dieser Krieg mein Krieg, er
ist nach meinem Bild, und ich verdiene ihn. Ich verdiene ihn zunächst,
weil ich mich ihm immer durch Selbstmord oder Fahnenflucht entziehen
konnte: diese letzten Möglichkeiten müssen uns immer gegenwärtig
sein, wenn es darum geht, eine Situation zu beurteilen. Da ich mich ihm
nicht entzogen habe, habe ich ihn gewählt [...]. Wenn ich also dem Tod oder der Entehrung den Krieg
vorgezogen habe, dann geschieht alles so, als trüge ich die gesamte
Verantwortung für diesen Krieg.“ (Sartre, 122006, 951)
Oder betrachten wir ein anderes, weniger
drastisches, womöglich aber doch interessantes Beispiel – wobei ich
vorwegschicken möchte: Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden Personen
sowie real existierenden Universitäten sind natürlich rein zufällig.
Also: Stellen wir uns eine Universität vor, in der die Universitätsleitung
plant, in der Philosophischen Fakultät die Philosophie sowie sämtliche
geisteswissenschaftlichen Fachstudiengänge abzuschaffen. Und stellen
wir uns weiter vor, dass viele der von diesen Plänen betroffenen Angehörigen
der Philosophischen Fakultät selbige für unsinnig halten, für absurd
und im Hinblick auf die Zukunft dieser Universität als
Wissenschaftsstandort und als regionale Bildungsinstitution für höchst
kontraproduktiv, für unerträglich - eigentlich. Aber sie unternehmen
nichts, versuchen gar nicht erst, die „eigentlich“ unerträglich
Situation zu „nichten“ – aber aus welchen Gründen auch immer sie
es nicht tun: Wenn sie dem Protest und den Mühen eines Widerstand die
Abschaffung der Geisteswissenschaften samt allen daraus resultierenden
Konsequenzen vorziehen, dann geschieht alles so, als trügen sie die
gesamte Verantwortung dafür.
Wie auch immer: In beiden Beispielen klingt
jedenfalls bereits deutlich an, dass die „absolute
Verantwortlichkeit“, die nach Sartre nur das „logische Übernehmen
der Konsequenzen unserer Freiheit“ ist (Sartre, 122006,
951), keineswegs nur auf die Selbstverantwortung eines Menschen für
sein eigenes Leben, seine eigene „Essenz“ beschränkt ist. Denn mit
dem eigenen „Entwurf“ des Lebens schafft jeder Mensch zugleich ein
„Bild des Menschen“ (Sartre, 32005, 151) bzw. einen
bestimmten „Typ von Humanität“, der allen anderen Menschen
gleichsam als Möglichkeit eines verantwortbaren menschlichen
Lebensentwurfes präsentiert wird (vgl. Sartre, 32005, 167).
Und daher kann man nach Sartre sagen:
„Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen
wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch
sagen, sich wählend wählt er alle Menschen.“ (Sartre, 32005,
151)
Totale oder absolute Verantwortung bedeutet daher dementsprechend:
„Und wenn wir sagen, der Mensch ist für sich selbst
verantwortlich, wollen wir nicht sagen, er sei verantwortlich für seine
strikte Individualität, sondern für alle Menschen.“ (Sartre, 32005,
150)
Oder noch ein bisschen
dramatischer:
„Die wesentliche Konsequenz unserer vorangegangenen
Ausführungen ist, daß der Mensch, dazu verurteilt, frei zu sein, das
Gewicht der gesamten Welt auf seinen Schultern trägt: er ist für die
Welt und für sich selbst als Seinsweise verantwortlich.“ (Sartre, 122006,
950)
Das also ist die Situation des Menschen in der
Welt:
„Der Mensch kann nichts wollen, wenn er nicht zunächst
begriffen hat, daß er auf nichts anderes als auf sich selber zählen
kann, daß er allein ist, verlassen auf der Erde inmitten seiner
unendlichen Verantwortlichkeiten, ohne Hilfe noch Beistand, ohne ein
anderes Ziel als das, das er sich selber geben wird, ohne ein anderes
Schicksal als das, das er sich auf dieser Erde schmieden wird. Diese
Gewißheit, diese intuitive Erkenntnis seiner Situation, das ist es, was
wir Hoffnungslosigkeit nennen: es ist keine schöne romantische Verstörtheit,
wie man sieht, sondern das nüchterne und klare Bewußtsein von der Lage
des Menschen.“ (Sartre, 32005, 118)
Kommen wir nun abschließend zurück zur
Ausgangsfrage:
4. Wollen wir wirklich frei sein?
Wollen wir wirklich in diesem Sinne frei
sein? Wollen wir, jeder einzelne von uns, das Gewicht der
gesamten Welt auf unseren Schultern tragen? Ist das wirklich so ein
„gutes Gefühl“? Oder fühlen wir uns nicht eher von dieser wahrlich
gewaltigen Freiheits-Zumutung regelrecht erdrückt, erscheint sie uns
nicht geradezu als „unmenschlich“ und macht sie uns nicht eher
Angst? Auch das hat Sartre sehr wohl bedacht:
„Aber die Angst, wird man sagen. Nun, dieses etwas
feierliche Wort bezieht sich auf eine ganze einfache und alltägliche
Realität. Wenn der Mensch nicht
ist, sondern sich schafft und
wenn er, in dem er sich schafft, die Verantwortlichkeit für die ganze
Gattung Mensch übernimmt, wenn es weder einen Wert noch eine Moral
gibt, die a priori gegeben
sind, sondern wenn wir in jedem Fall allein entscheiden müssen, ohne Stütze,
ohne Führung und dennoch für
alle, wie sollten wir da nicht Angst haben, wenn wir handeln müssen?
[...] [Wer] die furchtbare Mission, die jedem von uns gegeben ist, nicht
voller Angst empfindet, der muß ein großer Pharisäer sein.“
(Sartre, 32005, 117)
Aber wie gehen wir um mit dieser Angst? Auch bezüglich
dieser Frage stellt Sartre nüchtern und illusionslos fest:
„... die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die
Unaufrichtigkeit.“ (Sartre, 122006, 955; vgl. auch Sartre, 32005,
162)
Und was fällt uns da nicht alles ein?: „Ich bin
eben so erzogen.“; „Ich war nicht Herr meiner Sinne.“; „Der
Alkohol war Schuld!“; „Die Triebe haben mich
überwältigt.“; „Was soll ein schwacher Mensch wie ich schon
ausrichten?“; „Die da Oben richten sich’s eh, wie sie’s
brauchen.“; „Man kann ja eh nichts ändern.“; „Der Sachzwang lässt
mir keine andere Wahl.“; „Die anderen wehren sich ja auch nicht –
wieso soll ich der Dumme sein?“; „Ich muss doch meine Habil noch
durch die Fakultät bringen!“; „Das ist nun mal mein Schicksal.“;
„Mein Gehirn hat mich dazu determiniert.“ – usw. usw. ...
Wie hieß das doch beim alten Kant: „Faulheit und
Feigheit“ sind die Gründe dafür, warum ein so großer Teil der
Menschen zeitlebens gerne unmündig bleibt. Denn: „Es ist so bequem,
unmündig zu sein.“ (Kant, Aufklärung, A 482).
Natürlich kennt Sartre die ganze Palette der wohl
in allen menschlichen Gesellschaften beliebten und gebräuchlichen
„Unmündigkeitstheoreme“ – aber allen derartigen Versuchen, der
Freiheit samt ihren schrecklich unbequemen Konsequenzen zu entkommen, hält
er entgegen:
„Ich bin in die Welt geworfen
[...] in dem Sinn, daß ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde,
engagiert in eine Welt, für die ich die gesamte Verantwortung trage,
ohne mich, was ich auch tue, dieser Verantwortung entziehen zu können,
denn selbst für mein Verlangen, die Verantwortlichkeiten zu fliehen,
bin ich verantwortlich.“ (Sartre, 122006, 953 f.)
Von der Freiheit gibt es keinen Dispenz:
„Der Mensch kann nicht bald frei und bald Sklave
sein: er ist gänzlich und immer frei, oder er ist es nicht.“ (Sartre,
122006, 766)
Frei ist der Mensch nach Sartre nur in einer
einzigen Hinsicht nicht:
„Außerdem ist die Freiheit Freiheit zu wählen,
nicht aber die Freiheit, nicht zu wählen. Nicht wählen heißt ja wählen,
nicht zu wählen.“ (Sartre 122006, 832)
Und wenn man sich nicht vor sich selbst lächerlich
machen, sich nicht bloß als Automat oder „ein bißchen Phosphor,
Kohlenstoff und Schwefel“ begreifen will, dann bleibt letztendlich
keine andere Möglichkeit, als seine Entscheidungen sich
selbst zuzuschreiben, unabhängig davon, welche Rolle nun das eigene
Gehirn – das schließlich man selbst ist!
– bei den einzelnen Entscheidungsfindungen spielt.
Fazit: Die Frage, ob wir wirklich frei sein wollen,
stellt sich gar nicht. Denn so sehr wir uns auch dagegen empören,
welche Einwände wir auch erfinden, uns der „Faktizität der
Freiheit“ (Sartre, 122006, 838) samt ihren Konsequenzen zu
entwinden – es ist und bleibt unsere
Empörung, unser Erfinden von Einwänden, unser
Suchen nach Möglichkeiten zur Flucht! Die Angst vor der Freiheit ist
der unerbittlichste Aufweis ihrer Existenz (vgl. Sartre, 122006,
765). Wir haben keine Wahl – wir sind und bleiben zur Freiheit verdammt.
Fußnoten:
)
Denn streng
genommen mündet der radikale neurobiologische Konstruktivismus in einem
radikalen epistemologischen Solipsismus, der die Frage, ob „jeder von
uns in seiner einsamen Wirklichkeit [lebt]“ (Roth, 1997, 333) ,
eigentlich konsequent bejahen müsste. Roth argumentiert nun in diesem
Zusammenhang, es sei in der Tat „in einem bestimmten Sinne der
Fall“, dass „jeder die Welt nur in seiner Weise [sieht]“ und
„wir wirklich voneinander isoliert [sind]“ (ebd., 334); aber diese
Argumentation ist insofern irreführend, als Begriffe wie „jeder“,
„wir“ und „voneinander isoliert“ bereits implizieren, dass es unterschiedliche
subjektive Sichtweisen gibt. Aber im radikalen neurobiologischen
Konstruktivismus können streng genommen „wir“, können „andere
Menschen“, mit denen wir „kommunizieren“, ihrerseits nur als phänomenale
Konstrukte innerhalb einer subjektiven „Wirklichkeit“ aufgefasst
werden – einschließlich der „realistischen“ Annahme, dass wir uns
die anderen Menschen als real von uns verschieden denken müssen.
Und somit stellt sich die Frage des Standpunkts, von dem aus Roth
feststellen kann, dass wir zwar „in einem bestimmten Sinne“ in
solipsistischen Wirklichkeiten leben, via Kommunikation aber der Kontakt
mit anderen solipsistischen Wirklichkeiten möglich sein soll. Denn
entweder die Grundthesen des radikalen neurobiologischen
Konstruktivismus treffen zu - dann kann sich der radikale Neurobiologe
Roth in jeder „Kommunikation“ immer nur so auf „andere Menschen“
beziehen, dass diese anderen Menschen in radikalem Sinne Konstrukte
innerhalb seiner phänomenalen Wirklichkeit sind. Roth bezieht
sich also dann streng genommen in jeder Kommunikation auf sich selbst
– folglich führt er immer nur Selbstgespräche. Und diese
radikal-solipsistischen Konsequenzen ließen sich im Kontext des
Rotschen radikalen neurobiologischen Konstruktivismus nur vermeiden,
wenn man seine Radikalität abmildert (was Roth „subkutan“ auf
Schritt und Tritt tut), oder wenn man die Möglichkeit einräumt, einen
anderen, externen Standpunkt „jenseits“ der eigenen phänomenalen
Wirklichkeit einzunehmen – aber welcher Standpunkt sollte dies sein,
wenn nicht der Gottes?
) Ähnlich argumentierte später Karl Jaspers im Rahmen seiner
„Existenzphilosophie“: „Anfang und Ende der Freiheitserhellung
bleibt aber, daß Freiheit nicht erkannt, auf keine Weise objektiv
gedacht werden kann. Ich bin ihrer für mich gewiß, nicht im Denken,
sondern im Existieren; nicht im Betrachten und Fragen nach ihr, sondern
im Vollziehen; alle Sätze über Freiheit sind vielmehr ein stets
missverstehbares, nur indirekt hinzeigendes Kommunikationsmittel“
(Jaspers, 1994, 185).
) Selbstverständlich ist dieses „erste Prinzip“
der Philosophie Sartres evidentermaßen paradox, denn schließlich
besagt es, dass es das Wesen des Menschen ist, kein „Wesen“ zu
haben, das seiner Existenz vorausginge. Aber im Rahmen dieses Beitrags
soll es genügen, diese Grundparadoxie lediglich festzustellen.
) Natürlich darf diese definitorische Reduktion des Freiheitsbegriffs auf
„Negativität“ bzw. „Nichtungsvermögen“ nicht dahingehen
missverstanden werden, dass in diesem Freiheitsbegriff keine Möglichkeit
der Konstruktivität oder Kreativität läge. Vielmehr ist
beispielsweise der Moment, in dem der Sklave seine Ketten zerreißt, natürlich
auch der Moment der Be-Freiung, der einen völlig neuen Möglichkeitsraum
des Handelns schafft.
Literatur:
Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek bei
Hamburg 62004.
Jaspers, Karl: Philosophie II. Existenzerhellung, München
1994.
Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (=
GMS), in: Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm
Weischedel, Bd. VII, Frankfurt/Main 19782, 11-102.
Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft (= KpV),
in: Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm
Weischedel, Bd. VII, Frankfurt/Main 19782, 125-302.
Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
(= Aufklärung), in: Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von
Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt/Main 19782, 53-61.
Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit,
Frankfurt/Main 1997.
Roth, Gerhard: Die Konstruktion unserer Erlebniswelt durch
das Gehirn, in: Therapiewoche (11/1997), 139-146.
Sartre, Jean-Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus
– und andere philosophische Essays 1943-1948, Reinbek bei Hamburg 32005.
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer
phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 122006.
Singer, Wolf: „Der freie Wille ist nur ein gutes Gefühl“,
Interview in: Süddeutsche Zeitung, 25.04.06, 9. S., unter: http://www.sueddeutsche.de/wissen/artikel/113/74039/.